Mittwoch, 24. Juni 2020

Kontrolle der Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln von Amts wegen

Prof. Dr. Hervé Edelmann, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Thümmel, Schütze & Partner

 

Anknüpfend an seine Entscheidung vom 11.03.2020 (vgl. Edelmann, BTS 2020 S. 43) erinnert der EuGH in seiner Entscheidung vom 04.06.2020, Az. C-495/19 (BeckRS 2020 S. 11.028), daran, dass ein nationales Gericht, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt, die Missbräuchlichkeit einer in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fallenden Vertragsklausel von Amts wegen prüfen und damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen muss (Rn. 37).

 

Diesen Grundsatz erweitert der EuGH sodann dahingehend, dass es einem mit einem Rechtsstreit zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher befassten Gericht, wenn es nicht über die rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt, um die Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln zu prüfen, nach nationalem Recht möglich sein muss, die notwendigen Untersuchungsmaßnahmen von Amts wegen durchzuführen, um festzustellen, ob eine Klausel des den Anspruch stützenden und rechtfertigenden Vertrags missbräuchlich ist (Rn. 38). Demgemäß müsste das nationale Gericht, auch wenn der Verbraucher zum Verhandlungstermin nicht erscheint, vor Erlass eines Versäumnisurteils die notwendigen Untersuchungsmaßnahmen durchführen, um die potentielle Missbräuchlichkeit der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fallenden Klausel zu prüfen (Rn. 40). Insofern müsste das Gericht die Klagepartei auch auffordern können, die Dokumente vorzulegen, die ihrer Klage zugrunde liegen. Einem solchen „Interventionsrecht“ des nationalen Gerichts stünden weder der Dispositionsgrundsatz noch der Grundsatz der ne ultra petita entgegen (Rn. 45). 

 

SEMINARTIPP

VerbraucherKreditRecht 2020, 22.09.2020, Frankfurt/M.

 


Hiervon ausgehend hält der EuGH dann fest, dass ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz nicht gewährleistet ist, wenn das nationale Gericht, dass mit einem in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fallenden Rechtsstreit zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher befasst ist, nicht die Möglichkeit hat, auch dann, wenn der Verbraucher nicht erscheint, zu prüfen, ob die Vertragsklauseln, auf die der Gewerbetreibende seinen Antrag stützt, missbräuchlich sind (Rn. 46 u. 52).

 

BUCHTIPP

Nobbe (Hrsg.), Kommentar zum Kreditrecht, 3. Aufl. 2018.


 


Insgesamt gelangt der EuGH zum Ergebnis, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen dahingehend auszulegen ist, dass er der Auslegung einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die ein Gericht, das mit einer in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallenden Klage eines Gewerbetreibenden gegen einen Verbraucher befasst ist und ein Versäumnisurteil erlässt, wenn der Verbraucher trotz Ladung nicht zur Verhandlung erscheint, daran hindert, die notwendigen Untersuchungsmaßnahmen durchzuführen, um die Missbräuchlichkeit der Vertragsklauseln, auf die der Gewerbetreibende sein Begehren gestützt hat, von Amts wegen zu prüfen, wenn das Gericht Zweifel daran hat, ob die Klauseln missbräuchlich i. S. d. Richtlinie sind. 

 

PRAXISTIPP

 

Nachdem der EuGH das Ergreifen der notwendigen Untersuchungsmaßnahmen zur Feststellung der Missbräuchlichkeit der Vertragsklausel von Amts wegen, auf die der gewerbetreibende Kläger sein Begehren stützt, ausschließlich auf die Fälle beschränkt hat, bei denen das Gericht Zweifel daran hat, ob die Klauseln missbräuchlich i. S. d. „Missbrauchsrichtlinie“ sind, dürfte diese Entscheidung für das deutsche Recht bei Erlass eines Versäumnisurteils keine großen Auswirkungen haben. Denn auch wenn bei Nichterscheinen des Beklagten das tatsächliche Vorbringen des Klägers nach § 331 Abs. 1 S. 1 ZPO als zugestanden anzusehen ist, ist das nationale deutsche Gericht bei bestehenden Zweifeln an der Schlüssigkeit der Klage gem. § 331 Abs. 2 ZPO daran gehindert, ein Versäumnisurteil gegen den abwesenden Beklagten zu erlassen. 

 

Ist dem aber so und hat das nationale Gericht Zweifel daran, ob eine Klausel, auf die die Klagepartei ihren Anspruch stützt, missbräuchlich ist, so steht es dem nationalen Gericht frei, die Klagepartei auf diesen Umstand hinzuweisen und Gelegenheit zu geben, die Zweifel des Gerichts an der Missbräuchlichkeit einer Klausel auszuräumen, da ansonsten das Gericht kein Versäumnisurteil erlassen kann. 


Beitragsnummer: 9168

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