Montag, 6. April 2020

Grund- und Freiheitsrechte in Corona-Zeiten

Prof. Dr. Hervé Edelmann, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Thümmel, Schütze & Partner

 

Es ist unstreitig, dass durch die aktuell bundesweit getroffenen Corona-bedingten Maßnahmen, wie z. B. die Verhängung eines Ausgangsverbots, die Einschränkungen des Aufenthalts im öffentlichen Raum, das Verbot von Veranstaltungen im öffentlichen und privaten Bereich sowie die Anordnung von Betriebsschließungen jedweder Art zu einer bislang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlang beispiellosen und noch nie dagewesen irreversiblen massiven Beschränkung einer Vielzahl grundrechtlich geschützter Freiheiten führt, wozu insbesondere die Einschränkung der Freiheitsrechte der Person (Art. 2 GG), der Ehe und Familie (Art. 6 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Freizügigkeit (Art. 11 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 GG), der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) und wohl auch der Menschenwürde (Art. 1 GG) gehören.

 

Ungeachtet dieser durch die behördlichen Maßnahmen bedingten irreversiblen und massiven Grundrechtseinschränkungen überrascht es sehr, dass, soweit ersichtlich, sämtliche bislang mit Eilanträgen von Betroffenen befassten Gerichte die in der Regel auf die erst kürzlich durch Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) am 27.03.2020 weiter ausgedehnte Generalklausel des § 28 IfSG gestützten einschneidenden staatlichen Maßnahmen zumindest „für einen vorübergehenden Zeitraum“ für rechtmäßig erachtet haben. Allerdings, und dies ist den Gerichten hoch anzurechnen, haben nahezu alle Gerichte auch zu erkennen gegeben, dass mit fortschreitender Zeitdauer der massiven Grundrechtseinschränkungen sowie insbesondere bei einer etwaigen angedachten Aufrechterhaltung oder Verlängerung der staatlichen Maßnahmen die Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit der die Grundrechte ganz empfindlich einschränkenden Maßnahmen immer fragwürdiger wird (vgl. hierzu nur VG Schleswig, Beschluss v. 01.04.2020 – I B 32/20; VG Oldenburg, Beschluss v. 31.03.2020 – 7 B 709/29; VGH München, Beschluss v. 30.03.2020 – 20 CS 20.611; VG Dresden, Beschlüsse v. 30.03.2020 – 6 L 212/20 sowie 220/20; VG Hamburg, Beschluss v. 27.03.2020 – 14 E 1428/20; BayVerfGH, Entscheidung v. 26.03.2020 – 6 VII 20).

 

SEMINARTIPPS

Datenschutz Kompakt: Aktuelle Rechtsprechung & Positionen der Aufsicht, 24.06.2020, Frankfurt/M.

Informationssicherheit & Datenschutz: Spannungsfeld & Schnittmengen, 08.10.2020, Köln.

 

Zur Begründung der Rechtmäßigkeit der staatlichen Maßnahmen wird von den Gerichten neben der Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit der Bevölkerung im Wesentlichen darauf abgestellt, dass es in erster Linie sowie ganz entscheidend darauf ankommt, die exponentielle Ausbreitung der im Wesentlichen im Wege der Tröpfcheninfektion übertragbaren und von der Weltgesundheitsorganisation am 11.03.2020 als Pandemie eingestuften Krankheit Covid-19 in Deutschland, insbesondere auch durch die unentdeckt infizierten Personen, so zu verlangsamen, dass die Leistungsfähigkeit der ärztlichen, insbesondere der krankenhausärztlichen (Intensiv-)Versorgung für die medizinisch fachgerechte Behandlung der durch Covid-19 schwererkrankten Personen (z. B. durch die Schaffung einer ausreichenden Anzahl von Behandlungsplätzen, von medizinischem Personal, von Beatmungsgeräten und Schutzmasken) sichergestellt ist und eine Überlastung oder gar der Zusammenbruch des Gesundheitssystem, wie beispielsweise in Italien, in der Bundesrepublik Deutschland verhindert wird (vgl. hierzu nur VG Schleswig, a.a.O., Rn. 9, 10, 17 und 19; VGH München, a.a.O., Rn. 22; VG Hamburg, a.a.O., Rn. 45, 46, 50 und 55).

 

So sehr man diese Positionierung der mit der Frage der Rechtmäßigkeit der vom Staat angeordneten und eine Vielzahl von Grundrechten massiv einschränkenden Maßnahmen befassten Gerichte vor dem Hintergrund des zumindest in manchen europäischen Ländern und auch in Amerika teilweise zu beobachtenden Zusammenbruchs der Gesundheitssysteme nachvollziehen kann – so musste beispielsweise das medizinische Personal in Italien darüber entscheiden, welche beatmungspflichtige Angehörige bestimmter Bevölkerungsgruppen wegen eines Mangels an Geräten und Personal von der intensivmedizinischen Behandlung mit Beatmungsgeräten zu Gunsten anderer Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen und damit dem wahrscheinlichen, ansonsten vermeidbaren Tod überlassen werden müssen –, so sehr bestehen ganz erhebliche Zweifel daran, ob die bisher und vorläufig bis zum 19.04.2020 angeordneten drakonischen und die Grundrechte der Bürger massiv einschränkenden staatlichen Maßnahmen rechtmäßig und verhältnismäßig waren und insbesondere ob diese nach dem 19.04.2020 noch rechtmäßig und vor allem notwendig, erforderlich, verhältnismäßig und für die Bürger zumutbar sind.

 

BUCHTIPP

Duncker/Hallermann/Maull (Hrsg.), Bearbeitungs- und Prüfungsleitfaden: Neues Datenschutzrecht, 2019.

 



Denn nach dem letzten aktuellen Bericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 03.04.2020 konnte bereits zu diesem Zeitpunkt die krankenhausärztliche Intensivversorgung in Deutschland insofern ganz erheblich verbessert werden, als die Intensivbetten von 28.000 auf 40.000 erhöht wurden, wobei von den 40.000 Intensivbetten per 03.04.2020 angabegemäß nur 2.424 Betten mit Corona-Patienten belegt waren. Zudem ist zu unterstellen, dass bei pflichtgemäßer Wahrnehmung der in der am 27.03.2020 neu gestalteten Fassung des IfSG dem Bundesminister für Gesundheit nahezu uneingeschränkt eingeräumten Möglichkeiten sowohl das medizinische Personal als auch die Schutzausrüstung zumindest bis zum 19.04.2020 so aufgestockt worden sein wird, dass eine optimale oder zumindest gute medizinische Intensivbetreuung von an Covid-19 schwer erkrankten Patienten sichergestellt ist, womit eines der mit den behördlichen Zwangsmaßnahmen angestrebten erstrangigen Ziele der Politik zu einem ganz erheblichen Teil bis zum 19.04.2020 erreicht sein dürfte. 

 

Hinzukommt, dass nach dem aktuellen Bericht des RKI vom 03.04.2020 durch die behördlichen Maßnahmen auch erreicht wurde, dass per 03.04.2020 jeder Corona-Infizierte im Schnitt nur noch einen weiteren Menschen ansteckt, sodass die sog. Reproduktionszahl des Virus auf eins reduziert wurde. Bedenkt man wiederum, dass nach den RKI-Informationen von einer Infektion bis zur offiziellen Meldung durch das Institut ca. 10–15 Tage vergehen, dürfte die aktuelle Reduzierung der sog. Reproduktionszahl weniger auf die um den 20.03.2020 bundesweit angeordneten drakonischen Maßnahmen zurückzuführen sein, als vielmehr auf die bereits zuvor angeordneten Schulschließungen sowie dem Verbot von Großveranstaltungen, was wiederum zur Konsequenz hätte, dass die sog. Reproduktionszahl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bis zum 19.04.2020 unter 1 kommen dürfte, was auch dem Wunsch des Chefs des RKI, Herrn Lothar Wieler, entspricht und wodurch ein weiteres erstrangiges Ziel der Politik bis zum 19.04.2020 erreicht worden sein dürfte.

 

In diesem Zusammenhang ist weiter zu berücksichtigen, dass das individuelle Risiko einer Infektion mit der Folge eines gravierenden Krankheitsverlaufs nach den Angaben des RKI eher gering ist. So lag der Anteil der milderen Verläufe selbst in Wuhan/Hubei, China, bei ca. 80 %, weswegen in Deutschland der Anteil an Patienten mit milderen Krankheitsverläufen nach bisheriger Beobachtung bei über 90 % liegen dürfte, was aufzeigt, dass die staatlichen Maßnahmen zum Schutz von lediglich 10 % der Bevölkerung oder weniger erfolgt. Bedenkt man weiter, dass die schweren Krankheitsverläufe im Wesentlichen ältere Personen ab 70 sowie Personen mit bestimmten chronischen Vorerkrankungen treffen – so waren beispielsweise nach RKI-Angaben per 03.04.2020 86 % der in Deutschland an Covid-19 verstorbenen Personen 70 Jahre alt oder älter (Durchschnittsalter 82 Jahre; so RKI-Steckbrief, Sars-CoV2), wobei der Anteil der Toten an den Infizierten nach der RKI-Meldung vom 03.04.2020 bei (nur) 1,4 % lag –, dann stellt man fest, dass selbst nach dem nunmehr im neuen IfSG zur allein maßgeblichen nationalen Behörde bestimmten RKI der von Covid-19 betroffene Bevölkerungsanteil gering und zudem einfach feststellbar und „isolierbar“ ist, weswegen die Frage berechtigt ist, ob unter den staatlichen Zwangsmaßnahmen insbesondere nach dem 19.04.2020 weiterhin die gesamte Bevölkerung leiden muss oder ob die staatlichen Maßnahmen nicht auf den geringen Anteil an tatsächlich gefährdeten und ohne großen Aufwand eingrenzbaren Personenkreis beschränkt werden kann/muss.

 

Bedenkt man darüber hinaus, dass die Covid-19-Krankheit im Wesentlichen über Tröpfchen, die beim Husten und Niesen entstehen, erfolgt, so wird noch fragwürdiger, ob die bis zum 19.04.2020 angeordneten drakonischen staatlichen und massiv die Grundrechte der Bürger einschränkenden Zwangsmaßnahmen auch nach dem 19.04.2020 noch notwendig, erforderlich und verhältnismäßig sind, da die Tröpfchenübertragung durch „einfachere“ Hygienemaßnahmen, durch die Einhaltung der Hust- und Niesetikette sowie durch die Beachtung eines Abstands von 1,5–2 m sichergestellt werden kann. 

 

Nach hiesiger Auffassung dürfte es vor dem Hintergrund vorstehender Ausführungen ausreichend aber auch verhältnismäßig sein, auch nach dem 19.04.2020 nur ganz bestimmte kontaktreduzierende Maßnahmen weiterhin aufrechtzuerhalten. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass nach den epidemiologischen Bulletin 12/20 des RKI vom 19.03.2020 vergangene Pandemien gezeigt haben, dass eine der zentralen bevölkerungsbasierten und kontaktreduzierenden Maßnahmen die Absage von Großveranstaltungen sowie von Veranstaltungen in geschlossenen Räumlichkeiten ist, bei denen ein Abstand von 1–2 m nicht gewährleistet werden kann. Eine weitere zentrale Maßnahme ist nach dem RKI-Bulletin wiederum die Schließung öffentlicher (Bildungs-)Einrichtungen und Schulen in Regionen mit steigenden Fallzahlen. Als weitere zentrale Maßnahme nach Angaben des RKI in deren Bulletin ist ferner der gezielte Schutz sowie die gezielte Unterstützung der vom Covid-19-Virus besonders betroffenen älteren Menschen und Personen mit chronischen Grundkrankheiten. 

 

Ist dem aber so, dann könnten beispielsweise besondere staatliche Regelungen für Alten- und Pflegeheime erlassen bzw. aufrechterhalten werden. Zudem sollten die besonders gefährdeten Personen erfasst und besonderen Schutzmaßnahmen unterworfen werden. Darüber hinaus sollten (nur) Großveranstaltungen und solche Veranstaltungen (auch in geschlossenen Räumen) untersagt werden, bei welchen feststeht, dass der erforderliche Abstand von 1,5–2 m nicht eingehalten werden kann. Begleitend hierzu sollte jeder persönlich und eigenverantwortlich darauf achten, dass der Abstand von 1,5–2 m weiterhin eingehalten und zur Vermeidung von Ansteckungen Dritter die Hust- und Niesetikette so eingehalten wird, dass Dritte von den austretenden Tröpfchen – soweit möglich – nicht getroffen werden. Zudem sollten Infizierte nach wie vor möglichst durch die Erhöhung der Tests sowie die Einführung von Schnelltests frühzeitig erkannt und isoliert werden, wobei die Quarantäne in einem solchen Fall auch auf sog. enge Kontaktpersonen ausgedehnt werden müsste. Da bei Kindern und Jugendlichen die Covid-19-Erkrankung meist mit einer geringeren oder keiner Symptomatik einhergeht, sollten gerade bei diesen in viel höherem Maße Tests durchgeführt werden, um zu verhindern, dass infizierte Kinder und Jugendliche den besonders gefährdeten älteren Menschen und Personen mit chronischen Erkrankungen zu nahe kommen.

 

Sollte sich daher bis zum 19.04.2020 nichts Gravierendes ereignen und sich insbesondere der bisherige Infektionsverlauf nicht gravierend ändert, dann dürfte die Aufrechterhaltung der drakonischen und die Grundrechte der Bürger massiv einschränkenden staatlichen Zwangsmaßnahmen nicht mehr gerechtfertigt sein. Insbesondere stünden die Betriebsschließungen völlig außer Verhältnis zum Sinn und Zweck der durch die Zwangsmaßnahmen erwünschten und ohnehin schon weitgehend erreichten Ziele. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass sowohl die Bundesregierung als auch die Wirtschaftsweisen allein durch die bisherigen staatlichen Maßnahmen mit einer schweren Rezession rechnen – insbesondere bei den konsumnahen Dienstleistungen wie Restaurants und Cafés, die am stärksten von den Maßnahmen betroffen sind – und dass nach den Berechnungen des Münchener Info-Instituts die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Deutschland mehr als eine halbe Bio. Euro und mehr als eine Mio. Jobs kosten könnte. 

 

Insofern sollte umgehend nach dem 19.04.2020 der bundesweite „Shut-Down“ aufgehoben und die staatlichen Maßnahmen auf das absolut Notwendige beschränkt werden. Dabei möge der Staat auch die von hochqualifizierten und anerkannten Fachleuten außerhalb des RKI vertretenen Meinungen berücksichtigen und eine risikoorientierte und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechende „Exit-Strategie“ schnell beschließen. Denn eine solche ist nicht nur wegen der dramatischen wirtschaftlichen Folgen des „Shut-Down“ zwingend notwendig, sondern auch aus Respekt vor den insbesondere den Staat bindenden Grund- und Freiheitsrechten seiner Bürger. 

Sollte der deutsche Staat trotz vorstehender Ausführungen die drankonischen Zwangsmaßnahmen über den 19.04.2020 aufrechterhalten, dann würde dieser aus hiesiger Sicht ohne ausreichenden sachlichen und medizinisch indizierten Grund sowie unter Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit nicht nur massive Grundrechtsverletzungen seiner Bürger bewusst in Kauf nehmen, sondern darüber hinaus auch die deutsche Wirtschaft irreparabel zerstören und gegen grundlegende Prinzipien unserer demokratischen Verfassung und Grundordnung verstoßen.


Beitragsnummer: 6466

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