Hendrik Schulte, Rechtsanwalt der AWADO Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Scheinselbständigkeit birgt erhebliche Risiken für Banken und Finanzinstitute, denn auch freie Handelsvertreter, also provisionsbasiert arbeitende Vermittler von Finanz- und Versicherungsprodukten, können in Betriebsprüfungen der Deutschen Rentenversicherung als abhängig Beschäftigte angesehen werden. Dies kann mit erheblichen Nachzahlungen von Sozialversicherungsbeiträgen und gegebenenfalls Säumniszuschlägen verbunden sein, im schlimmsten Fall drohen den Geschäftsleitern auch strafrechtliche Konsequenzen. Unbedingt sollte daher überprüft werden, ob für selbständig gehaltene Vertragspartner tatsächlich selbständig sind. Bestenfalls sollten Statusfeststellungsverfahren durchgeführt werden.
Betriebsprüfungen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) sind eine – wenig lieb gewonnene – Routine für Geschäftsleiter sowie Personal- und Rechtsabteilungen. Sie treten, wie ähnlich wichtige Ereignisse (wir denken hier an die Olympischen Spiele oder auch größere Fußballturniere) in gewohnter Regelmäßigkeit alle vier Jahr auf und gehen meist ohne größere Konsequenzen vorüber. Schwerpunkte liegen auf der ordnungsgemäßen Beitragsabführung, den geringfügig Beschäftigten und gegebenenfalls der Einhaltung des Mindestlohngesetzes – so weit, so üblich.
Leider ist es das an dieser Stelle nicht gewesen. Vermehrt, und für viele geprüfte Betriebe überraschend, kommt nach unzähligen beanstandungsfreien Betriebsprüfungen der Tag, an dem ein Betriebsprüfer Rechnungen von Subunternehmern, freien Mitarbeitern und freiberuflichen Handelsvertretern einsehen möchte – der Beginn eines Dramas mit (mindestens) drei Akten. Eine gesetzliche Regelung, welche ursprünglich dazu diente, prekär beschäftigten Personen soziale Sicherheit zu bieten und die entsprechenden rechtsmissbräuchlich handelnden Beschäftigungsgeber zu sanktionieren, wird genutzt, um legitime und beiderseitig gewünschte Selbständigkeit einzudämmen.
Es handelt sich um ein Problem, das zunehmend auch Banken und Finanzinstitute betreffen kann, denn häufig werden freie Finanzberater auf Provisionsbasis als Handelsvertreter nach §§ 84 ff. HGB der Bank eingesetzt. Mit Urteil vom 08.03.2021 (S 18 BA 93/18) entschied das Sozialgericht Frankfurt a. A., dass ein solcher Finanzberater nicht als selbständig, sonders als sozialversicherungspflichtig abhängig Beschäftigter einzustufen sei.
Warum kommt es bei freien Mitarbeitern in Betriebsprüfungen regelmäßig zu Problemen?
Freie Mitarbeiter werden im betrieblichen Ablauf regelmäßig wie alle anderen Kreditoren behandelt. Das heißt insbesondere, dass sie Rechnungen für erbrachte Dienstleistungen oder Provisionen schreiben, allerdings weder Lohnsteuer noch Sozialversicherungsbeiträge, wie es bei Arbeitnehmern üblich wäre, abgeführt werden. Dementsprechend erfolgt auch keine Meldung der freien Mitarbeiter als Beschäftigte, für die Sozialversicherung laufen diese also zunächst „unter dem Radar“. Interessant wird es für den Betriebsprüfer, wenn er die Vermutung anstellt, dass es sich bei dem eigentlich freien Mitarbeiter um einen abhängigen Beschäftigten handelt, welcher der Beitragspflicht unterliegen könnte. Anhaltspunkte hierfür sind nach § 7 Abs. 1 SGB IV eine Weisungsbindung und die Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.
Dem Anschein nach kann man diese Tatbestandsmerkmale einfach durch eine passende Vertragsgestaltung ausschließen. Entsprechend der ständigen Rechtsprechung ist aber für die Beurteilung, ob eine abhängige Beschäftigung vorliegt, nicht ausschließlich die vertragliche Grundlage, sondern vor allem auch die tatsächliche Ausgestaltung der Geschäftsbeziehung relevant.
Was prüft die Deutsche Rentenversicherung konkret?
Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts prüft die Deutsche Rentenversicherung zunächst den vertraglichen Rahmen, fragt darüber hinaus aber auch weitere Informationen zu der praktischen Ausgestaltung der Vertragsbeziehung ab, hierbei sind Auftraggeber und Auftragnehmer zur Mitwirkung verpflichtet.
Im Laufe der Zeit hat sich der Prüfungsmaßstab teils drastisch – und zu Gunsten der Deutschen Rentenversicherung – gewandelt. Vor dem Hintergrund, dass „höhere Tätigkeiten“ generell eher unabhängig von Weisungen verrichtet werden, wird dieses Tatbestandsmerkmal mehr und mehr außer Acht gelassen und im Wesentlichen auf das Merkmal der Eingliederung abgestellt. Relevant ist also vor allem, ob dem Auftragnehmer Arbeitsmittel (ein Stethoskop kann ausreichen!) zur Verfügung gestellt werden, er Zugriff auf IT-Systeme des Auftraggebers hat oder auf welchem Papier er seine Dokumentation führt (hier reicht ein vom Auftragnehmer genutzter Vordruck des Arbeitgebers aus).
Eine weitere wesentliche Rolle spielt das so genannte „unternehmerische Risiko“, also eine mit dem Unternehmertum einhergehende wirtschaftliche Ungewissheit. Auch dieses unternehmerische Risiko liegt, entgegen der Einschätzung der Auftraggeber, meist nicht in einem dem Betriebsprüfer ausreichenden Umfang vor.
Das früher häufig hinzugezogene Merkmal, ob ein Auftragnehmer weitere Auftraggeber hat, teilweise wurde hier sogar auf eine Quote abgestellt, hat bei der Beurteilung, ob eine Beschäftigung vorliegt, aus Sicht der DRV kaum (noch) Relevanz, gleiches gilt mittlerweile auch für das gezahlte, gegenüber Arbeitnehmern herausgehobene Honorar. Es wird seitens der DRV und der Rechtsprechung nämlich gerade nicht auf die wirtschaftliche Abhängigkeit und die Fähigkeit zur Selbstabsicherung, sondern auf das Solidaritätsprinzip abgestellt.
Auch die Beauftragung einer GmbH schützt nicht, wenn diese nur aus einer Person oder mehreren Gesellschaftern ohne eigene Arbeitnehmer besteht – hier kann es vielmehr auch noch zu einer unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung kommen.
Im Zweifel wird der Betriebsprüfer oftmals eine abhängige Beschäftigung annehmen. In den meisten Fällen wird diese Einschätzung aber auch durch die Sozialgerichtsbarkeit bestätigt.
Drei Akte – Was folgt auf die Betriebsprüfung?
- Kommt die Betriebsprüfung zu dem Ergebnis, dass Scheinselbständigkeit vorliege, der Auftragnehmer also in Wahrheit abhängig beschäftigt sei, folgt in der Regel ein Anhörungsschreiben des Betriebsprüfers unter Darlegung der wesentlichen Gründe für seine Entscheidung und einer Berechnung der voraussichtlich durch den Auftraggeber nachzuzahlenden Sozialversicherungsbeiträge.
- Kann das Ergebnis dieser Anhörung den Betriebsprüfer nicht umstimmen, erlässt er einen Bescheid über die Feststellung des Beschäftigungsstatus und die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, hierzu gehört auch der Beitrag zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Dieser Bescheid ist sofort zur Zahlung fällig und hat oft (auf den ersten Blick) ruinöse Konsequenzen für den geprüften Betrieb. Der Beitrag ist nicht, wie im Arbeitsverhältnis üblich, paritätisch von Auftraggeber und Auftragnehmer zu leisten. Vielmehr kann nur ein kleiner Anteil der fälligen Forderung von dem Auftragnehmer zur Zahlung verlangt werden, dies auch nur in Form des „Lohn“abzugs.
- Auf den Bescheid folgen die Rechtsbehelfe. Hier kommt es im ersten Schritt darauf an, die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs und einer Klage gegen den Bescheid zu erwirken. Widerspruch und Klage müssen dann natürlich auch erhoben werden. Die Bedeutung dieser aufschiebenden Wirkung darf keinesfalls unterschätzt werden – bestenfalls können betroffene Unternehmen so mehrere Jahre Zeit gewinnen, um die zu erbringende Beitragsnachzahlung leisten zu können oder einen Vergleich mit der DRV zu suchen.
Welche Konsequenzen drohen darüber hinaus bei Vorsatz?
Bei Vorsatz droht eine Strafbarkeit nach § 266a StGB wegen des Vorenthaltens von Arbeitsentgelt. Hinzukommen kann eine persönliche Haftung des Geschäftsführers oder Vorstands gegenüber der DRV sowie die Veranlagung von Säumniszuschlägen. Glücklicherweise hat sich gerade die strafrechtliche Rechtsprechung zugunsten der Auftraggeber entwickelt, sodass Vorsatz mittlerweile erst dann angenommen wird, wenn der Geschäftsleiter neben der Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse auch eine Einordnung des Auftragsverhältnisses als Beschäftigungsverhältnis für möglich gehalten hat.
Wie Banken und Finanzinstitute betroffen sein können
Die Bezeichnung freier Vertriebsmitarbeiter als Handelsvertreter i. S. d. §§ 84 ff. HGB dürfte für nicht keinesfalls genügen, um eine Scheinselbständigkeit auszuschließen, das hat bereits das Sozialgericht Frankfurt a. M. gezeigt. Eine erfolgsabhängige Provisionsvergütung kann zwar grundsätzlich deutlich für eine selbständige Tätigkeit als Handelsvertreter sprechen, allerdings könnte dieses Indiz z. B. dadurch geschmälert werden, dass die Voraussetzungen und Höhe der Provisionszahlung durch die Bank einseitig geändert werden können. Wie auch in anderen Branchen kommt es darüber hinaus maßgeblich auf die Eingliederung der betreffenden Person an. Die Einbindung in Reportingstrukturen und die Hierarchiesysteme der Bank sprechen z. B. deutlich für eine abhängige Beschäftigung. Einer besonderen Bedeutung kommt es auch zu, wenn ein Handelsvertreter nur sinnvoll innerhalb einer Filiale der Bank arbeiten kann, auch wenn der Agenturbereich des Vermittlers von der eigentlichen Bankfiliale durch optische Gestaltung abgetrennt ist. Dann hilft es auch nicht weiter, wenn dem Vermittler vertraglich eingeräumt wurde, aus einer eigenen Betriebsstätte tätig zu sein. Ebenfalls nicht ausreichend sein dürfte nach dem Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a. M. der Hinweis auf die Selbständigkeit im Rahmen von Plakaten oder Namensschildern.
Fazit und Praxisempfehlungen
Die Beratungspraxis zeigt, dass Scheinselbständigkeit immer häufiger zum Schwerpunkt von Betriebsprüfungen der Deutschen Rentenversicherung gemacht wird, auch in Branchen, welche über Jahre verschont geblieben sind. Betroffen sind mittlerweile auch Finanzinstitute und Banken, z. B., wenn sie selbständige Handelsvertreter einsetzen. Dass sich dieses Geschäftsmodell über lange Zeit entwickelt hat und für beide Seiten lukrativ sein dürfte, spielt aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung und der Sozialgerichte eine gegenüber dem Schutz der Solidargemeinschaft nur untergeordnete Rolle.
- Banken und Unternehmen sollten überprüfen, ob Verträge mit freien Mitarbeitern oder Handelsvertretern bestehen, welche nicht zur Sozialversicherung gemeldet sind. Dies gilt auch für Tochtergesellschaften.
- Für diese Personen sollte schnellstmöglich ein Statusfeststellungsverfahren bei der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung durchgeführt werden. Bei einer Entscheidung zugunsten der Selbständigkeit kann im Wege der Gruppenfeststellung eine gutachterliche Äußerung der Deutschen Rentenversicherung zu zukünftigen, gleichen Sachverhalten beantragt werden.
- Sollten im Anschluss an die Statusfeststellung Beitragsbescheide ergehen, werden diese anders als Betriebsprüfungsbescheide erst mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens zur Zahlung fällig.
- Erfolgt das Statusfeststellungsverfahren innerhalb des ersten Monats der Tätigkeit, werden Sozialversicherungsbeiträge erst ab dem Statusfeststellungsbescheid erhoben, sofern der Betroffene zustimmt und er für den Zeitraum zwischen Beschäftigungsbeginn und Bescheid selbst kranken- und rentenversichert war.
- Die gewissenhafte Prüfung einer möglichen Scheinselbständigkeit und die Einleitung eines Statusfeststellungsverfahren sollten einem Vertragsschluss mit freien Mitarbeitern bzw. Handelsvertretern vorgeschaltet sein oder schnellstmöglich nachgeholt werden.
- Scheinselbständigkeit sollte auf Grund finanzieller und strafrechtlicher Risiken ein eigenes Risikofeld innerhalb eines Compliance-Management-Systems darstellen.
- Für den Fall, dass Scheinselbständigkeit als mögliches Risiko identifiziert wird, sollte schnellstmöglich rechtlicher Rat eingeholt werden, um die Handlungsmacht zu behalten und einer Betriebsprüfung zuvorzukommen.
Beitragsnummer: 22813