Prof. Dr. Hervé Edelmann, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart
In seinen beiden Entscheidungen vom 09.07.2024, XI ZR 44/23 sowie XI ZR 40/23, hält der Bundesgerichtshof zunächst fest, dass die in den Prämien-Sparverträgen infolge der Unwirksamkeit der Zinsanpassungsklauseln entstandene Regelungslücke durch ergänzende Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB zu schließen ist (XI ZR 44/23 Rn. 23; XI ZR 40/23 Rn. 21). Damit macht der BGH einmal mehr deutlich, dass der ergänzenden Vertragsauslegung im deutschen Recht die Rechtsprechung des EuGHs nicht entgegensteht (so bereits BGH, Urteil vom 06.10.2021, XI ZR 234/20 sowie BGH, Urteil vom 01.06.2022, VIII ZR 287/20).
Hieran anschließend hält der Bundesgerichtshof fest, dass die Oberlandesgerichte Naumburg und Dresden zudem jeweils rechtsfehlerfrei angenommen haben, dass der im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu bestimmende Referenzzins nicht nach der Methode gleitender Durchschnitte zu berechnen ist (XI ZR 44/23 Rn. 25–27; XI ZR 40/23 Rn. 22). Dies deshalb, weil die Sparer bei Anwendung der sogenannten Gleitzinsmethode entgegen ihrer Erwartung bereits im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses überwiegend an die Zinsentwicklung zurückliegender Jahre gebunden seien, da künftige Zinsänderungen in dem maßgeblichen Durchschnittszinssatz nur entsprechend ihrem Zinsanteil einfließen. Sparer würden demgegenüber im Rahmen ihrer Anlageentscheidung bei der maßgebenden objektiv-generalisierenden Sicht den ihnen angebotenen variablen Zins mit dem gegenwärtigen durchschnittlichen Marktzinssatz vergleichen und nicht mit einem Zins, der aus überwiegend in der Vergangenheit liegenden Zinsen berechnet wird.
Bei der Festlegung des für die Berechnung der Zinsen maßgeblichen Referenzzinssatzes hebt der Bundesgerichtshof sodann hervor, dass beide Berufungsgerichte völlig zu Recht davon ausgegangen sind, dass die Zinsanpassungen nicht auf der Grundlage der von den Verbraucherschutzverbänden gewünschten gleitenden Durchschnittswerten der letzten 10 Jahre der Umlaufrenditen inländischer Hypothekenpfandbriefe mit einer garantierten Restlaufzeit von 10 Jahren (Zeitreihe der Deutschen Bundesbank mit der ehemaligen Kennung WX 4260) vorzunehmen seien (XI 44/23 Rn. 28–32; XI ZR 40/23 Rn. 23). Zur Begründung führt der Bundesgerichtshof aus, dass die von den Verbraucherschutzverbänden als Referenzzins befürworteten Umlaufrenditen trotz ihrer Besicherung durch Pfandbriefe nicht den „risikolosen" Marktzins wiedergeben, sondern einen Risikoaufschlag enthalten würden, der im Vergleich zu den Umlaufrenditen von Bundesanleihen zu einer vergleichsweisen höheren (unberechtigten) Verzinsung führt. Der typische Sparer, der Sparverträge der streitgegenständlichen Art abschließt, zeige demgegenüber keine Risikobereitschaft, sodass der im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung zu bestimmende Referenzzins ebenfalls keinen Risikoaufschlag enthalten dürfe.
Hieran anschließend bestätigt der Bundesgerichtshof, dass die von beiden Oberlandesgerichten als Referenzzinssatz herangezogenen Umlaufrenditen inländischer Bundeswertpapiere mit Restlaufzeiten von über 8–15 Jahren (ehemalige Zeitreihe WU9554) den Anforderungen genügen, welche im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung an einen Referenzzins für die variable Verzinsung der Sparverträge zu stellen sind. Sie würden von der Deutschen Bundesbank, einer unabhängigen Stelle, nach einem genau festgelegten Verfahren ermittelt sowie in deren Monatsberichten regelmäßig veröffentlicht und begünstigen daher weder einseitig die Sparer noch die beklagten Sparkassen. Die Umlaufrenditen von Bundesanleihen würden zudem die jeweils aktuellen risikolosen Zinsen am Kapitalmarkt widerspiegeln und würden in Ermangelung eines Ausfallrisikos keinen Risikoaufschlag enthalten. Zudem würden die Restlaufzeiten von über 8–15 Jahren der herangezogenen Umlaufrenditen der typisierten Spardauer bis zum Erreichen der höchsten Prämienstufe nach 15 Jahren hinreichend nahekommen (XI ZR 44/23 Rn. 33, 34 XI ZR 40/23 Rn. 24, 25). In diesem Zusammenhang stellt der Bundesgerichtshof noch klar, dass zwar für die ergänzende Vertragsauslegung der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses maßgeblich ist, dieser zeitliche Bezugspunkt jedoch nicht die Berücksichtigung späterer Erkenntnisquellen in Bezug auf die Bestimmung des Referenzzinssatzes ausschließt, die erst nach Vertragsabschluss veröffentlicht worden sind (XI ZR 44/23 Rn. 36).
Im Verfahren XI ZR 44/23 hält der Bundesgerichtshof schließlich fest, dass sich die für die Ingangsetzung der 3-jährigen Regelverjährung gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB erforderliche Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Verbraucher nicht auf die Unwirksamkeit der in den Sparverträgen enthaltenen Zinsanpassungsklausel und auf die Parameter für die Zinsanpassung beziehen muss, die höchstrichterlich festgelegt worden sind. Dies deshalb, weil der Inhaber eines Anspruchs, anders als von den Verbraucherschutzverbänden vertreten, keine rechtlich zutreffenden Schlüsse nachvollziehen muss, damit der Lauf der Verjährung seines Anspruchs in Gang gesetzt wird. Zudem betont der Bundesgerichtshof, dass der Verjährungsbeginn auch vor dem Hintergrund der aktuellen EuGH-Rechtsprechung zum Effektivitätsgrundsatz nur die Kenntnis der den Anspruch begründenden objektiven Umstände voraussetzt und nicht auch die Kenntnis des Verbrauchers von der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts oder von seinen Rechten. In diesem Zusammenhang hält der Bundesgerichtshof ergänzend noch fest, dass selbst dann, wenn man dies anders sehen wollte, eine richtlinienkonforme Auslegung von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB ausgeschlossen ist (XI ZR 44/23 Rn. 41–47). Abschließend weist der Bundesgerichtshof darauf hin, dass eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage, die den Verjährungsbeginn hinausschieben könnte, auch nicht vorliegt (XI ZR 44/23 Rn. 50).
PRAXISTIPP
Bedenkt man, dass bisher klar war, dass den Sparern aufgrund unwirksamer Zinsanpassungsklauseln Zinsnachzahlungsansprüche zustehen und lediglich streitig war, auf der Grundlage welches Referenzzinssatzes diese Ansprüche zu berechnen sind und berücksichtigt man weiter, dass der Bundesgerichtshof mit vorstehenden zwei Urteilen nicht nur die beiden von den Verbraucherschutzverbänden eingelegten Revisionen vollumfänglich zurückgewiesen hat, sondern zudem auch noch die von den Verbraucherschutzverbänden favorisierte Zinsreihe WX4260 als für die Berechnung der Zinsen unpassend abgelehnt und die von den Verbraucherschutzverbänden zur Verjährung vertretene Meinung als unzutreffend zurückgewiesen hat, dann kann man sich über die offenkundig falschen Schlagzeilen in manchen Medien nur sehr wundern, die zu diesem Urteil veröffentlicht wurden und welche dokumentieren, dass die Medien sich haben dazu verleiten lassen, Falschmeldungen zu veröffentlichen.
Denn vor dem Hintergrund des Inhalts der Urteile sowie der Tatsache, dass die Verbraucherschutzverbände ihre Revisionen auf ganzer Linie verloren haben, kann mitnichten von einem „Hammer-Urteil gegen Sparkassen" oder davon gesprochen werden, dass zulasten der Sparkassen entschieden wurde. Noch verwunderlicher ist vor dem Hintergrund vorstehender Urteile, dass den Prämiensparern sogar mit Musterbriefen seitens der Verbraucherschutzverbände (erst jetzt) empfohlen wird, Zinsnachzahlungsansprüche geltend zu machen. Denn vor dem Hintergrund der nunmehr ergangenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 09.07.2024 werden sich die Sparer bei der Geltendmachung von Zinsnachzahlungsansprüchen sehr darüber wundern, wenn die ihnen von den Verbraucherschutzverbänden bisher unter Berufung auf die Zinsreihe WX4260 zugesagten hohen Zinsnachzahlungen nicht zugesprochen werden.
Vor dem Hintergrund der die Tatsachen teilweise falsch wiedergebenden Medien-Schlagzeilen wird nochmals festgehalten, dass die Verbraucherschutzverbände beim Bundesgerichtshof auf ganzer Linie unterlegen und damit beide Revisionen schlichtweg verloren haben, was sie offenbar in der Pressekommunikation zu unterschlagen versucht haben. Besonders nachteilig für die Verbraucherschutzverbände waren beide Entscheidungen des BGH schon deswegen, weil der BGH unmissverständlich klargestellt und hervorgehoben hat, dass die von den Verbraucherschutzverbänden favorisierte und grundsätzlich zu höheren Zinsansprüchen führende Zinsreihe mit der ehemaligen Kennung WX4260 bei der Berechnung der Zinsansprüche der Sparer nicht zu berücksichtigen ist, sondern die vom Sachverständigen Prof. Dr. Thießen favorisierte Umlaufrendite inländischer Bundeswertpapiere mit Restlaufzeiten von über 8–15 Jahren (ehemalige Zeitreihe WU9554).
Von mindestens ebenso großem Nachteil für die Verbraucherschutzverbände ist ferner, dass der Bundesgerichtshof, auch unter Auseinandersetzung mit der aktuellen EuGH-Rspr. zum sog. Effektivitätsgrundsatz, entgegen dem von den Verbraucherschutzverbänden gewünschten Ergebnis ausdrücklich klargestellt hat, dass für den Beginn der Verjährung die rechtliche Würdigung der objektiven Umstände nicht notwendig ist und dass selbst dann, wenn man das anders sehen wollte, eine europarechtskonforme Auslegung der verjährungsrechtlichen Regelungen aufgrund des eindeutigen Wortlauts des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB sowie des deutlich zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Willen ausscheidet, womit die 3-jährige deutsche Grundsatzverjährung „safe“ sein dürfte. (Zur Verjährungsthematik vgl. Fademrecht, WM 2024, 1107 ff.; Piekenbrock, WM 2024, 1101; Edelmann, WuB 2024, 157; ders. in Banken-Times SPEZIAL Bankrecht, Ausgabe Februar 2024, S. 2; Edelmann/Weil, BB 2022, 1548 ff.; zur Rechtsprechung des BGH zur Wirksamkeit von Kündigungen von Prämiensparverträgen in unterschiedlichen Fallkonstellationen vgl. Grüneberg, BKR 2024, 121 ff.; OLG Koblenz, Urteil v. 01.03.2024, 8 U 1764/22, WM 2024, 1421 sowie BayObLG, Urteil v. 28.02.2021, 1021 MK 1/20. WM 2024, 1406).
Ob neben der Zeitreihe WU9554 auch noch die der Zinsreihe WU9554 ähnliche Zinsreihe der Umlaufrenditen inländischer Inhaberschuldverschreibungen/börsenorientierter Bundeswertpapiere mit Restlaufzeiten von 5–8 Jahren (ehemalige Zeitreihe WU9553) herangezogen werden kann, so wie dies das OLG Brandenburg in seinem Urteil vom 27.03.2024, 4 U 91/22, auf Anregung des Sachverständigen Prof. Dr. Weiß getan hat (BKR 2024, 522 mit Anm. Kalisz; vgl. zur Thematik auch Schultheiß/Widany, WM 2023, 601 ff.), bleibt abzuwarten. Hiergegen könnte sprechen, dass der Bundesgerichtshof in seinen beiden Entscheidungen ausdrücklich festgehalten hat, dass die Restlaufzeiten von über 8–15 Jahren der Referenzzinsreihe WU9554 der typisierten Spardauer bis zum Erreichen der höchsten Prämienstufe nach 15 Jahren hinreichend nahekommen. Auf der anderen Seite könnte es durchaus sein, dass der Bundesgerichtshof, sollte ihm z. B. das Urteil des OLG Brandburg zur Entscheidung vorgelegt werden, aufgrund der Ausführungen des dort beauftragten Sachverständigen, aufgrund des bestehenden Ermessensspielraums des entscheidenden Gerichts bei der Bestimmung des Referenzzinssatzes sowie aufgrund seines eigenen eingeschränkten Prüfungsspielraumes auch die Zinsreihe WU9553 für passend erachtet.
Nachdem der Bundesgerichtshof den Kreditinstituten nunmehr einen maßgeblichen Referenzzins an die Hand gegeben hat, mit welchem die Kreditinstitute die von den Prämiensparern schon seit jeher geltend gemachten Zinsnachzahlungsansprüche berechnen können, wären die Prämiensparer gut beraten, genau zu überlegen, wem sie sich bei der Geltendmachung etwaiger Zinsnachzahlungsansprüche anvertrauen. Denn die aktuellen Medienberichte zeigen, dass (auch) gegenüber den Prämiensparern nicht immer mit offenen Karten gespielt wird.
Beitragsnummer: 22709