Donnerstag, 18. Juli 2024

Bauakten – vom Leid, die richtigen Immobilien-Unterlagen zu bekommen

Eine real erlebte lustige Kurzgeschichte über leidvolle Erfahrungen eines Sachverständigen mit dem Bauamt und verstaubten Behördenstrukturen

Carsten Nessler & Christian Sporbert, Immobilien-Sachverständige, Speaker, ImmoWert Hessen & HS Immobilienberatung

 

„Das macht mein Kollege“, sagte er, lehnte sich in seinem knarrenden Bürostuhl zurück und nahm einen großen Schluck aus einer gefährlich schwarz verfärbten Kaffeetasse. Oder war es Tee? Es war nicht so richtig zu erkennen. Beides hatte schon bessere Tage gesehen – der Stuhl und seine versiffte Bürotasse. Ach, was sage ich?! Das ganze Büro nebst Interieur und Ausstattung hatte schon bessere Tage gesehen. So ungefähr vor 35–40 Jahren waren die „besseren Tage“, würde ich schätzen. Hiernach ging es nur noch bergab.

Um eine Immobilie bewerten zu können, benötige ich als Sachverständiger recht viele Informationen und Unterlagen. Ein Teil davon kommt aus der Bauakte, die ich manchmal auch gerne einfach vor Ort einsehe – wenn es wie üblich mal wieder schnell gehen muss. Diese Akten liegen bei uns im Archiv des Bauamts. Gleich nebenan ist das Grundbuchamt, das Standesamt, das Ortsgericht, das Schiedsamt, die Friedhofsverwaltung. Kurze Wege einer kleinen Gemeinde, könnte man sagen. So beschaulich, so staubig.

Und so war ich hier im Bauaktenarchiv, um in die Bauunterlagen einer sehr großen Liegenschaft Einsicht zu nehmen. Das Grundstück war so groß, dass es sich über zwei Gemarkungen erstreckte, sprich: über zwei Gemeinden hinweg. Ich hatte Glück! Die Unterlagen beider Gemeinden wurden in eben diesem Bauaktenarchiv geführt. Ich hatte sogar noch mehr Glück! Beide Gemeinden wurden auf einem Schild an einer Amtstür aufgeführt, unter der Zimmernummer, die mir bei der Terminvergabe genannt wurde. Also trat ich ein und traf auf zwei Beamte des Archivs. Wobei, ich traf nicht auf sie, sondern steuerte auf die Rückenlehnen von vier Stühlen zu, die paarweise wie mit dem Lineal gezogen vor jeweils zwei Tischen standen. Die beiden Tische standen in einem 90°-Winkel, über Eck und bildeten so quasi die Frontlinie, wenn man das angestaubte Büro betrat.

Hier gab es alles doppelt! Zwei Beamte, zwei Tische, zwei Paar Stühle vor den Tischen, zwei Stiftehalter, zwei Locher, zwei Telefone, sogar zwei Kaffeemaschinen! Doch, halt! Der eine hatte viel mehr Klorollen als Taschentuchersatz auf seinem Schreibtisch stehen als der andere. Und der eine trug eine Brille; der andere nicht. Ich atmete auf – es waren doch keine Zwillinge!

Das Verwaltungsbüro war genauso funktional eingerichtet, wie man sich das von einem „modernen” Büro aus den Jahren des Kalten Krieges vorstellt. Weder hübsch noch ergonomisch. Viel zu kleine und niedrige Tische, hinter denen die vom Arbeitsschützer verordneten riesigen Gesundheitsstühle im Vergleich wie David und Goliath wirkten. Überall lag Staub. Ob der von den vielen Akten kam oder einfach schneller auf die Oberflächen fiel, weil sich hier nicht so viel und schon gar nicht schnell bewegt wurde, vermochte ich nicht zu sagen.

Nach einer freundlichen Begrüßung von mir und nachdem ich grob in den Raum geworfen hatte, worum es ging, schwand mein Glück. „Für die Gemarkung „Wo selbst das GPS kapituliert“ kommen Sie zu mir“, sagte einer der beiden und führte fort, „und die Gemarkung „Verloren im Ödland“, das macht mein Kollege“. Ich schaute stirnrunzelnd und verdutzt. Für diese beiden kleinen Gemeinden gab es ernsthaft zwei Beamte, die ein gemeinsames Archiv betreuten?! Und das war auch das Wort, das mir als entsetzte Frage entfuhr: „Ernsthaft?!“

„Ja!“, war die tonlose und ungerührte Antwort über den Rand der Kaffeetasse hinweg. Ich nahm also vor dem ersten Archivar Platz und erläuterte ihm, was ich warum und kraft welcher Vollmacht benötigen würde. Es gab alles, was das Herz begehrte. Unterschiedliche Gebäude aus unterschiedlichen Baujahren, die durch unterschiedliche Bauherren beantragt wurden.

Jetzt muss man etwas wissen! Jedes Bauamt hat so seine Besonderheiten und Logiken, denen es bei der Ablage von Unterlagen folgt. Straßennamen können sich ändern, ebenso Hausnummern oder sogar, zu welcher Gemeinde ein Grundstück gehört. Und spätestens nach der Gebietsreform wusste man, dass auch Flur und Flurstück – die eigentlich unveränderlichen Kennzeichnungen eines Grundstückes – eben doch veränderlich sind. Aber der Name des antragstellenden Bauherrn – der verändert sich nie mehr! Also wurden hier die Akten in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen der ursprünglichen Bauherren und Errichter der Gebäude sortiert. Egal ob lebendig, verstorben oder ob seither schon ganze Stammbäume verrottet waren. Diese Logik war mir bisher noch nicht untergekommen und sollte mir aber gleich im bürokratischen Amtsdeutsch erklärt werden.

„Name?!“, wurde ich etwas verstaubt und nasal gefragt. „Nessler!“, antwortete ich wahrheitsgemäß mit meinem Nachnamen. „Carsten Nessler, ich habe den Auftrag, die Immobilien zu bewerten“, fuhr ich fort, wurde aber mit einer kurzen Handbewegung von meinem Gegenüber gestoppt. „Den Namen des Bauherrn“, fuhr dieser fort. Ich schaute etwas irritiert. Mein Kunde wollte doch gar nicht bauen. Er wollte doch nur den Wert seiner Immobilien wissen.

Mein irritiertes Gesicht sprach Bände. Zumindest sprach es offensichtlich lautlos so laut, dass der Archivbeamte ohne weiteres Zutun meinerseits fortfuhr: „Unsere Bauakten sind nach den Namen der Antragsteller von Bauanträgen sortiert. Ich benötige entweder den Namen des Bauherrn, oder alternativ die Bauscheinnummer – also das Aktenzeichen der Baugenehmigung“, wurde mir staubfrei erklärt.

Jetzt muss man noch etwas wissen: Wenn man keinerlei Unterlagen hat, dann weiß man weder den Namen des ursprünglichen Bauherrn noch die Bauscheinnummer. Mein Kunde hatte keinerlei Unterlagen! Ich somit auch nicht!

Ob denn in den vergangenen Jahren niemand Lust und Zeit gefunden hätte, die Akten den aktuellen Adressen zuzuordnen, erdreistete ich mich zu fragen – und wusste doch die Antwort auf die Frage in dem Moment, in dem ich sie gestellt hatte! „Nein!“ hörte ich gleichzeitig mein Gegenüber und meine innere Stimme in meinem Kopf sagen. „Warum frag‘ ich denn überhaupt?!“ hörte ich mich und konnte aber nicht mit Gewissheit sagen, ob ich die Worte aussprach, oder ob sie nur in meinem Kopf nachhallten.

Da mein Gegenüber offensichtlich nicht antworten wollte, oder vielleicht auch einfach nichts sagte, weil ich den letzten Satz tatsächlich gar nicht gesagt, sondern nur gedacht hatte, schwiegen wir beide für ein paar Sekunden.

Da war ich nun so nah, wie man persönlich den Akten im angrenzenden Archiv nur sein konnte und doch so weit weg von den Inhalten hierin, wie man es sich nicht vorstellen konnte.

Ein letztes Ass hatte ich jedoch noch im Ärmel: Für den Betrieb meines Kunden gab es sogar einen eigenen Bebauungsplan. In der Größe des Betriebes musste man den hier kennen und vielleicht ergab sich etwas, wenn ich den Namen meines Auftraggebers fallen lassen würde. Der Name verfehlte seine Wirkung nicht. Das Gesicht meines Gegenübers erhellte sich und mit den Worten „Ja, die Akte haben wir hier separat hingehängt“, verschwand er im Archiv.

Kurze Zeit später war er mit einer Akte wieder bei mir, die exakt den Teil des Grundstückes betraf, für dessen Gemeinde er zuständig war. Freud und Leid liegen so nah beieinander. So sehr ich mich freute, doch noch Informationen zu erhalten, so offen blieb mir der Mund stehen, dass er tatsächlich nur die eine Akte geholt hatte und nicht die zweite Akte für den anderen Teil des Grundstückes.

Nachdem wir alle relevanten Informationen zur Akte ausgetauscht hatten, nickte ich kurz mit dem Kopf in die Richtung seines Kollegen und fragte „Und für die andere Akte muss ich jetzt wirklich zu Ihrem Kollegen?“ Und auch hier wusste ich eigentlich die Antwort, die mir ja schon eingangs gegeben wurde! „Ja!“ hörte ich wieder den synchronen harmonischen Zweiklang meines Gegenübers und meiner inneren Stimme.

Also drehte ich mich im Stuhl um 90° nach links, um den Kollegen anzusprechen, der für die andere Gemeinde zuständig war. „Schönen guten Tag“, begann ich, „mein Name ist Carsten Nessler, ich bin Gutachter und …“, „Ich weiß schon Bescheid“, sagte mir mein neues Gegenüber, „ich habe mit zugehört“, fuhr er fort. „Das wiederum ist nun mir egal und wenn ich schon einen neuen Ansprechpartner habe, dann will ich sicherstellen, dass Sie alle notwendigen Informationen haben!“, entgegnete ich ungerührt und fuhr fort, „… Ich soll eine Wertermittlung für folgende Grundstücke durchführen … hier ist meine Vollmacht … und ich benötige folgende Informationen …“. Ich weiß bis heute nicht, wie ich das diabolische Grinsen in meinem Gesicht verbergen konnte und anscheinend nach außen neutral erschien. Da die zu erörternden Zusammenhänge und benötigten Informationen recht komplex waren, war mein Begehren natürlich nicht nur in ein, zwei Sätzen vorzutragen, sondern es dauerte etwas.

Seufzend erhob sich der erste Beamte und verschwand im Archiv, um schon mal für seinen Kollegen die benötigte zweite Akte zu holen … Na, geht doch!

Lust auf mehr? Die obige Geschichte ist ein Auszug aus einer Reihe von Kurzgeschichten, welche zum Jahresende 2024 in einem Buch von Carsten Nessler und Christian Sporbert mit dem Titel „Als hinter dem Sachverständigen die Kellertür ins Schloss fiel“ erscheint.

 

PRAXISTIPPS

  • Es geht nicht nur darum, die Unterlagen der Immobilie in den Händen zu halten, sondern diese auch zu plausibilisieren und ggf. zu überprüfen. Gerade Finanzierungsexperten wissen um die Wichtigkeit der Unterlagen und der weitreichenden Auflagen im Zuge der Beleihung und Finanzierung. 
  • Aber warum sind denn die Unterlagen über die Risikoabwägung der Bank hinaus so wichtig? Es gibt keinen Bestandsschutz! Zumindest nicht für unzulässig errichtete Gebäudeteile oder Ausbauten. Und so ist es schon wichtig zu wissen, ob ein Anbau, Ausbau, oder eine Erweiterung der Immobilie ursprünglich genehmigt war oder nicht. Aber wie soll der Abgleich zwischen genehmigter Bauakte und Realität vor Ort erfolgen? Eine Immobilie, die bewertet und finanziert wird, sollte auch vor Ort begangen werden. Auch innen, nicht nur eine Außenbesichtigung!
  • Wie gehen Sie denn damit um, wenn der Makler sagt „Es gibt keine Bauakte“ und der Eigentümer behauptet, er hätte keine Unterlagen?! Das muss ja nicht stimmen. Genügt es den gesetzlichen Vorgaben, wenn Sie nach bestem Treu und Glauben eine Immobilie ohne Unterlagen einschätzen? Stattdessen wäre es sinnvoller, sich ein „Negativattest“ der Baubehörde ausstellen zu lassen, dass tatsächlich keine Bauakte existiert!

Beitragsnummer: 22672

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