Freitag, 24. Mai 2019

EuGH zur Aufzeichnungspflicht von Arbeitszeiten, Urt. v. 14.05.2019

Matthias Kaiser, LL.M (Glasgow), Rechtsanwalt, GSK STOCKMANN + KOLLEGEN

Einleitung

Mit seinem Urt. v. 14.05.2019 (C-55/18) stellte der EuGH die Verpflichtung von Arbeitgebern zur Erfassung der vollständigen Arbeitszeit von Arbeitnehmern fest. Diese Verpflichtung ergibt sich aus Sicht des EuGH aus der rechtskonformen Auslegung der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie (EU-RL 2003/88) und dem daraus resultierenden Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer. Die Presse hat zu der Entscheidung des EuGH bereits umfangreich berichtet. Dieser Beitrag beleuchtet die möglichen künftigen Konsequenzen des Urteils für die arbeitsrechtliche Praxis.

Ausgangsverfahren

Das Ausgangsverfahren befasste sich mit dem Rechtsstreit einer spanischen Gewerkschaft gegen eine spanische Tochtergesellschaft der Deutschen Bank vor dem Nationalen Gerichtshof Spaniens. Darin hat die Gewerkschaft die spanische Tochtergesellschaft der Deutschen Bank verklagt, ein System zur Messung der täglichen geleisteten Arbeitszeit einzurichten. Die Gewerkschaft berief sich für eine entsprechende Verpflichtung des Arbeitgebers neben nationalen Rechtsvorschriften maßgeblich auf die EU-Grundrechtecharta und die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG.


BUCHTIPP

Kuhn/Thaler (Hrsg.), BankPersonaler-Handbuch, 2016.


Der Nationale Gerichtshof bezweifelte die Vereinbarkeit der Rechtsprechung des obersten spanischen Gerichts mit dem Unionsrecht, wonach nur die von den Arbeitnehmern tatsächlich geleisteten Überstunden vom Arbeitgeber zu erfassen seien und an die Gewerkschaft gemeldet werden müssten. Der Nationale Gerichtshof begründete seine Ansicht damit, dass über die Hälfte der in Spanien von Arbeitnehmern geleisteten Überstunden von den Arbeitgebern nicht erfasst werde. Daher biete nur die systematische Erfassung der gesamten Arbeitszeit den Arbeitnehmern einen hinreichenden Schutz, eine Überschreitung der Höchstarbeitszeit zu belegen und die Einhaltung der Arbeitszeitregeln zu überprüfen und nur so die nationalen Regelungen über die Erfassung der Arbeitszeit, die in der Arbeitszeitrichtlinie und der Richtlinie 89/391/EWG über die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer bei der Arbeit und die darin kodifizierten Verpflichtungen eingehalten werden könnten.

Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019

Nach dem Urteil des EuGH vom 14.05.2019 müssen die Arbeitgeber die gesamte Arbeitszeit und Pausen ihrer Arbeitnehmer erfassen. Nur so könnten die Einhaltung der Arbeitszeitrichtlinie und damit der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer effektiv kontrolliert und durchgesetzt werden. Arbeitnehmer haben ein Grundrecht auf Einhaltung und Begrenzung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit sowie auf Einhaltung der täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten.

Daher ist nach dem EuGH jeder Arbeitgeber verpflichtet, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einrichten, das die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit vollständig erfasst. Nur ein solches Arbeitszeiterfassungssystem bietet den Arbeitnehmern – als schwächerer Partei des Arbeitsverhältnisses – die Möglichkeit, zu objektiven und verlässlichen Daten über die tatsächlich geleistete Arbeitszeit zu gelangen und damit die Einhaltung der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeit einschließlich der Überstunden sowie die Einhaltung der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten nachzuweisen. Ohne ein solches System ist es für die Arbeitnehmer äußert schwierig oder gar unmöglich, ihre Rechte in punkto Arbeitszeit durchzusetzen, was dem Zweck der Arbeitsschutzrichtlinie zuwiderläuft.

Der EuGH betont in seiner Entscheidung allerdings auch, dass die Mitgliedsstaaten unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs und der Größe und Form der Unternehmen die Modalitäten eines solchen Systems zur Arbeitszeiterfassung festlegen können. Daneben gestattet bereits die Europäische Arbeitszeitrichtlinie insbesondere für leitende Angestellte oder sonstige Personen mit selbstständiger Entscheidungskompetenz, Ausnahmen von den strengen Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Schutzes der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zuzulassen.

Was müssen Arbeitgeber tun?

  • Die gute Nachricht ist, Arbeitgeber müssen nicht ab sofort die Arbeitszeit der Arbeitnehmer vollständig dokumentieren. Zunächst ist der nationale Gesetzgeber gefragt. Bisher ist der Arbeitgeber gem. § 16 Abs. 2 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgehende Arbeitszeit zu erfassen. Diese teilweise Aufzeichnungspflicht dürfte nach dem Urteil des EuGH nicht mehr den Anforderungen der europäischen Arbeitszeitrichtlinie genügen. Der deutsche Gesetzgeber wird daher aufgrund der Rechtsprechung des EuGH das nationale Arbeitszeitgesetz anpassen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber die ihm insoweit vom EuGH gegebenen Möglichkeiten nutzt und Ausnahmen von der Verpflichtung der vollständigen Erfassung der Arbeitszeit für kleinere Unternehmen oder bestimmte Berufsgruppen zulässt. Der Arbeitsminister will bis zum Jahresende einen Gesetzesentwurf vorlegen. Dieser Entwurf sollte abgewartet werden, bevor arbeitgeberseitig Maßnahmen eingeleitet werden.
  • Da Arbeitgeber nicht schon jetzt zur vollständigen Erfassung der Arbeitszeit verpflichtet sind, drohen derzeit keine Bußgelder durch die Aufsichtsbehörden, wenn die Arbeitszeiten (noch) nicht vollständig i. S. d. EuGH-Urteils erfasst werden. Allerdings könnte das Urteil die Aufsichtsbehörden motivieren, die Einhaltung der Arbeitszeit und die entsprechende Dokumentation nach dem derzeit gültigen Arbeitszeitgesetz schon heute strenger zu überprüfen.
  • Für Arbeitgeber, die bereits jetzt die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer vollständig mit Hilfe eines Arbeitszeiterfassungssystems erfassen, ergeben sich durch die Entscheidung des EuGH keine Veränderungen. Insofern kann die Arbeitszeit weiterhin durch vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Instrumente (Excel-Tabellen oder Zeiterfassungstools) erfasst werden. Außerdem können die Arbeitnehmer weiterhin angewiesen werden, ihre Arbeitszeit selbst und eigenverantwortlich zu dokumentieren. Diese Vorgehensweise bleibt auch nach dem Urt. des EuGH vom 14.05.2019 gültig.

Künftige Auswirkungen des EuGH-Urteils auf das deutsche Recht

Das Urteil des EuGH wird Auswirkungen auf das Arbeitsleben haben. Allerdings bleibt zunächst die Umsetzung des Urteils durch den nationalen Gesetzgeber abzuwarten. Eile ist derzeit unangebracht.

Nachfolgend werden mögliche Auswirkungen des Urteils des EuGH vom 14.05.2019 auf das deutsche Arbeitsrecht kurz angerissen:

Ende der Vertrauensarbeitszeit?

Bei der Vertrauensarbeitszeit nimmt der Arbeitgeber keine Zeiterfassung seiner Arbeitnehmer vor. Ob das Urteil des EuGH vom 14.05.2019 die Vertrauensarbeitszeit vollständig beendet, ist noch nicht sicher. Es besteht die Hoffnung, dass der deutsche Gesetzgeber die ihm vom EuGH und durch die Arbeitszeitrichtlinie eingeräumte Ausnahmetatbestände nutzt und die Verpflichtung zur vollständigen Erfassung der Arbeitszeit nicht für alle Unternehmen und Berufsgruppen verbindlich festlegt. Dies gilt insbesondere für Arbeitnehmer höherer Hierarchieebenen mit Vertrauensarbeitszeit und für Außendienstmitarbeiter.

Ende der flexiblen Arbeitszeit?

Läutet die Pflicht des Arbeitgebers, die tägliche Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer minutengenau zu erfassen, das Ende des flexiblen und mobilen Arbeitens ein? Im heutigen digitalen Zeitalter, in dem die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zunehmend verschwinden, erledigen viele Arbeitnehmer arbeitsbezogene Aufgaben außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit außerhalb der Arbeitsstätte oder erbringen ihre Arbeitszeit zumindest teilweise im Home-Office. Außerdem unterbrechen Arbeitnehmer hin und wieder ihre gesetzlichen Ruhezeiten und führen ein kurzes Telefonat oder beantworten eine E-Mail. Einer solchen flexiblen und mobilen Arbeitswelt steht die Verpflichtung des Arbeitgebers zur minutengenauen Erfassung der täglichen Arbeitszeit entgegen. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, ob und wie der nationale Gesetzgeber diese Gegensätze auflöst.

Welche Arbeitszeit ist zu dokumentieren?

Grundsätzlich unterscheidet die Rechtsprechung nach vergütungspflichtiger- und arbeitsschutzrechtlicher Arbeitszeit. Vergütungspflichtige- und arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit sind unabhängig voneinander zu bewerten. So kann es beispielsweise sein, dass Reisezeiten arbeitsschutzrechtlich nicht relevant sind, aber dennoch zu vergüten sind. Hier stellt sich dann die Frage, welche Arbeitszeit durch den Arbeitgeber vollständig zu erfassen ist? Aus unserer Sicht spricht viel dafür, dass nur die arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit vollständig zu erfassen ist. Denn der EuGH stellt in seiner Urteilsbegründung maßgeblich auf die Einhaltung der Arbeitszeitrichtlinie aus Gedanken des Gesundheitsschutzes ab. Sicher ist dies allerdings nicht. Denn der EuGH möchte den Arbeitnehmern mit der Dokumentationspflicht der „täglichen Arbeitszeit“ auch die Durchsetzung seiner Rechte erleichtern. Insofern müssten dann wohl sowohl die arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit und die vergütungspflichtige Arbeitszeit dokumentiert werden. Die Diskussion und die Gesetzgebung hierzu bleiben abzuwarten.

Beweismittel für Geltendmachung von Überstunden?

Wenn der Arbeitgeber künftig tatsächlich zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit verpflichtet sein sollte, so erhalten die Arbeitnehmer mit der Aufzeichnung ihrer Arbeitszeit ein Beweismittel für die Geltendmachung von Überstunden. Denn mit der Aufzeichnung der täglichen Arbeitszeit ist der nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG Urt. v. 21.12.2016 – 5 AZR 363/16) erforderliche Nachweis erbracht, an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann Arbeit geleistet hat und er über die vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinaus Arbeitsleistungen erbracht hat. Zur erfolgreichen Geltendmachung von Überstunden wäre dann immer noch erforderlich, dass die Überstunden dem Arbeitgeber zurechenbar sind. Insoweit gelten dann die bisherigen allgemeinen Grundsätze.

Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats?

Sollte es tatsächlich zu einer Verpflichtung des Arbeitgebers zur minutengenauen Aufzeichnung der täglichen Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer kommen, so stünde dem Betriebsrat bei Einführung oder der Erweiterung des Systems zur Arbeitszeiterfassung Mitbestimmungs- und Initiativrechte nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) zu.

PRAXISTIPPS

  • Der Arbeitgeber ist derzeit noch nicht verpflichtet, die Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer vollständig zu erfassen, auch wenn er bisher die Arbeitszeit nicht vollständig erfasst hat. Der nationale Gesetzgeber muss zunächst das Arbeitszeitgesetz an die Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie und die Auslegung durch den EuGH anpassen. Dies bedeutet, dass die Vertrauensarbeitszeit sowie flexibles und mobiles Arbeiten weiterhin möglich sind.
  • Hat der Arbeitgeber bisher bereits die Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer vollständig erfasst, so ergeben sich wahrscheinlich keine bzw. keine großen Veränderungen. Die Arbeitszeit kann weiterhin durch die vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Arbeitszeiterfassungstools oder durch die Arbeitnehmer selbst erfasst werden.
  • Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber das Urteil des EuGH vom 14.05.2019 zum Anlass nimmt, das Arbeitszeitgesetz an die neuen Herausforderungen der digitalen Arbeitswelt anzupassen. Dazu hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bereits in seinem Weissbuch Arbeiten 4.0 verschiedene Möglichkeiten diskutiert.


Beitragsnummer: 2262

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