Dienstag, 6. Februar 2024

Krank oder Simulant?

Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und seine Erschütterung

Peggy Hachenberger, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht der AWADO Rechtsanwaltsgesellschaft mbH

Legt ein Mitarbeitender eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, beschleichen den Arbeitgeber bisweilen Zweifel, ob der Beschäftigte tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt ist.

Zusätzliche Unsicherheiten entstehen durch die Möglichkeit einer Ferndiagnose zur Erlangung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, ebenso der Wegfall der Vorlagepflicht im Rahmen der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

„Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (durch einen Arzt) kommt per se ein hoher Beweiswert zu.“ – dies ist eine Aussage, die sich in den Entscheidungsgründen vieler Urteile der Gerichte für Arbeitssachen finden.

Gemäß Entgeltfortzahlungsgesetz ist der Mitarbeitende verpflichtet, seinem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen; unverzüglich heißt, ohne schuldhaftes Zögern.

Nach § 5 Entgeltfortzahlungsgesetz ist die AU-Bescheinigung (bzw. ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit) das wesentliche Mittel zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit durch den Mitarbeitenden. Mit der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und der Zurverfügungstellung dieser Information an den Arbeitgeber haben Mitarbeitende zunächst alles getan, um ihre Forderung nach Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu begründen. Mit einer AU-Bescheinigung erbringt der Mitarbeitende regelmäßig den Nachweis, dass er wegen Krankheit nicht in der Lage ist, die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen.  

Der Anscheinsbeweis kommt jedoch grundsätzlich nur in Betracht, wenn die AU-Bescheinigung ordnungsgemäß ausgestellt wurde, also von einem approbierten Arzt. Zudem müssen verschiedene formelle Vorgaben erfüllt sein: Zunächst ist entscheidend, ob die AU-Bescheinigung auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen Untersuchung ausgestellt wurde, was im Regelfall eine persönliche Untersuchung durch den Arzt erforderlich macht. Insoweit reichen einfache Telefonate, elektronische Nachrichten oder vorgefertigte Fragestellungen in Apps nicht aus, zumal sich der Arzt für eine ordnungsgemäße Ausstellung nicht allein auf die Angaben des Patienten verlassen darf. Während der COVID-19-Pandemie wurden Ausnahmen gemacht. Zudem ist das sog. Fernbehandlungsverbot wieder gelockert. Nach der Muster-Berufsordnung für Ärzte ist die ausschließliche Beratung und Behandlung über Telekommunikationsmedien nunmehr im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die ärztliche Sorgfalt eingehalten werden kann.

Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass der Mitarbeitende mit einer Ferndiagnose zwar seiner Verpflichtung zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit genügt. Im Hinblick auf den Beweiswert führt die Ferndiagnose jedoch dazu, dass die Anforderungen an die Erschütterung des Beweiswertes einer AU-bescheinigung geringer sind als bei einer unmittelbaren persönlichen Untersuchung. Insoweit wird man nicht mehr pauschal von einem einheitlich hohen Beweiswert einer AU-Bescheinigung ausgehen können.

Fälle der Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

„Alt-Bekanntes“

Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können sich aus dem Verhalten des Mitarbeitenden ergeben. Denkbare Fallkonstellationen sind:

  • der Mitarbeitende legt eine AU-Bescheinigung vor, nachdem der Arbeitgeber einen Urlaubsantrag abgelehnt hat;
  • der Mitarbeitende verhält sich genesungswidrig oder wird bei einem anderen Arbeitgeber während der Krankheit tätig;
  • der Mitarbeitende kündigt sein Fernbleiben und die Vorlage eines „gelben Scheines“ nach einem Streit mit dem Arbeitgeber oder Kollegen an;
  • die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist rückdatiert.

Rückdatierung

Nach § 5 der Richtlinien des gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit (AU-RL) ist eine Rückdatierung des Beginns der Arbeitsunfähigkeit auf einen vor dem Behandlungsbeginn liegenden Tag ebenso wie eine rückwirkende Bescheinigung über das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit nur ausnahmsweise und nach gewissenhafter Prüfung sowie in der Regel nur bis zu drei Tage zulässig. Insbesondere „Anbieter“ einer AU-Bescheinigung auf der Basis einer Ferndiagnose bieten zum Teil ausdrücklich eine Rückdatierung um bis zu drei Tage an.

Die Rückdatierung von AU-Bescheinigungen begründen nach der Rechtsprechung in der Regel dann Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit, wenn der Mitarbeitende sich nicht in kontinuierlicher Behandlung bei dem die AU-Bescheinigung ausstellenden Arzt befand. Fallen rückwirkende AU-Bescheinigung und die Ausstellung aufgrund einer Ferndiagnose zusammen, wird man regelmäßig von einer Erschütterung des Beweiswertes ausgehen können.

AU-Bescheinigung bei Ende des Arbeitsverhältnisses

Nicht selten bringen Mitarbeitende AU-Bescheinigung im Zusammenhang mit dem drohenden oder feststehenden Ende des Arbeitsverhältnisses vor. Mehrere jüngere arbeitsgerichtliche Entscheidungen belegen den nötigen differenzierten Blick auf den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 08.09.2021 – 5 AZR 149/21 erkannt, dass im Fall, ein Mitarbeitender, der sein Arbeitsverhältnis kündigt, am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben wird, dies den Beweiswert der AU-Bescheinigung insbesondere dann erschüttern kann, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst. Das passgenaue Zusammentreffen von bescheinigter AU-Bescheinigung sowie Beginn und Ende der Kündigungsfrist führen nach Ansicht des BAG zu ernsthaften Zweifeln am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit, sodass der Arbeitnehmer die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für einen Entgeltfortzahlungsanspruch im Krankheitsfall getragen hat. Arbeitnehmer haben sodann konkrete Tatsachen darzulegen und zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist regelmäßig konkreter Vortrag u. a. dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Medikamente ärztlich verordnet wurden. Auch die Entbindung des behandelnden Arztes von seiner Schweigepflicht und die Benennung als Zeuge ist in der Regel erforderlich.

Das LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 02.05.2023 – 2 Sa 203/22) hat in Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung des BAG den Beweiswert einer vorgelegten AU-Bescheinigung in einer Gesamtbetrachtung aller Indizien ebenfalls als erschüttert angesehen. In dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte sich eine Arbeitnehmerin im Zusammenhang mit ihrer eigenen Kündigung nicht nur einmal, sondern fünfmal bis zum Ende der Kündigungsfrist krankschreiben lassen. Zudem ergab sich aus ihrem Kündigungsschreiben, dass sie nicht mehr mit ihrer Anwesenheit beim Arbeitgeber rechnet. Nach Überzeugung des Gerichts hat die Arbeitnehmerin ihrem Arzt Beschwerden vorgetragen, die tatsächlich nicht bestanden haben.

Anders eine Entscheidung des LAG Niedersachen (Urteil vom 08.03.2023 – 8 Sa 859/22): Ein Arbeitnehmer hatte sich krankgemeldet und erhielt erst sodann eine arbeitgeberseitige Kündigung. Hier fehlte es nach Ansicht des Gerichts an einem für die Erschütterung des Beweiswertes der AU-Bescheinigung notwendigen Kausalzusammenhang, und zwar auch dann, wenn ein Arbeitnehmer bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krankgeschrieben ist, am unmittelbar darauffolgenden Tag genesen bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten beginnt.

Praxistipps

  • Im Ergebnis kommt es für die Feststellung des Beweiswertes einer AU-Bescheinigung im Zusammenhang mit einer Kündigung auf mehrere Faktoren an: Entscheidend dürfte jedoch sein, ob die Krankschreibung gleichzeitig oder kurz nach der Kündigung erfolgt und den gesamten Zeitraum bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses umfasst. Dabei dürfte nicht von Relevanz sein, von wem die Kündigung veranlasst worden ist, mithin vom Arbeitgeber oder Arbeitnehmer.
  • Insoweit ist es seit der Entscheidung des BAG vom 08.09.2021 etwas leichter geworden, die Arbeitsgerichte von einer Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu überzeugen. Aber nicht jede Arbeitsunfähigkeit während der Kündigungsfrist erschüttert den Beweiswert, es ist stets eine Einzelfallbetrachtung und Würdigung vorzunehmen.
  • Daneben bleiben Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers, wenn Mitarbeitende beispielsweise „krankfeiern“; hierbei handelt es sich um eine schwerwiegende Verletzung der Arbeitspflicht und regelmäßig um eine Straftat. Von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung wird ein Mitarbeiter nur dann frei, wenn er tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt ist. Das „Krankfeiern“ und die damit bewirkte ungerechtfertigte Entgeltfortzahlung sind in der Regel ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung, der damit einhergehende (zumindest versuchte) Betrug zulasten des Arbeitgebers verletzt das Vertrauensverhältnis grundlegend, sodass eine vorherige Abmahnung entbehrlich sein kann.

Beitragsnummer: 22497

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