Donnerstag, 17. August 2023

Vermutung beratungsgerechten Verhalten

Prof. Dr. Hervé Edelmann, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart


In Abweichung zur Rechtsprechung des XI. Zivilsenats in den Fällen eines Aufklärungs- und Beratungsfehlers eines Anlageberaters (vgl. hierzu BGH Urt. v. 08.05.2012, XI ZR 262/10, Rn. 30ff.) sowie des V. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs bei einem Beratungsfehler des Vermittlers eines Wohnungskaufs als Kapitalanlage, schließt sich der III. Zivilsenat in seiner Entscheidung vom 15.06.2023, III ZR 44/22 im Rahmen der Notarhaftung der Rechtsauffassung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs in Fällen anwaltlicher Beratung (vgl. hierzu BGH Urt. v. 16.09.2021, IX ZR 165/19, Rn. 36) an und erinnert zunächst daran, dass dann, wenn ein Notar einen bestimmten Rat, Hinweis oder eine bestimmte Warnung schuldet, der erste Anschein dafür spricht, dass die Beteiligten dem gefolgt wären (Vermutung beratungsgerechten Verhaltens). Dies zugrunde legend hält der III. Zivilsenat sodann im Bereich der Notarhaftung an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, wonach Voraussetzung für das Eingreifen der Vermutung beratungsgerechten Verhaltens zwingend sei, dass bei ordnungsgemäßem Verhalten nach der Lebenserfahrung lediglich ein bestimmtes Verhalten nahegelegen hätte oder sämtliche vernünftigen Verhaltensmöglichkeiten identische Schadensbilder ergeben hätten (Rn. 23). Besteht dagegen nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit, sondern kommen verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht und bergen sämtliche gewisse Risiken in sich, dann ist nach Auffassung des III. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs für einen Anscheinsbeweis nach wie vor kein Raum.

Ähnlich wie der IX. Zivilsenat in seiner vorstehend zitierten Entscheidung vom 16.09.2021 führt der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zur Begründung aus, dass das Eingreifen lassen der Vermutung beratungsgerechten Verhaltens bei der Notarhaftung auch in den Fällen, in welchen es mehrere naheliegende Handlungsmöglichkeiten gibt, zu einer unangemessenen Risikoverteilung führen würde. Insbesondere würde dem Notar in solchen Fällen der Nachweis solcher Umstände aufgebürdet, die ganz oder überwiegend im Einfluss- und Kenntnisbereich des Beteiligten liegen, was dem Notar kaum möglich ist. Anders als der Vermittler einer Immobilie als Kapitalanlage handele der Notar bei der Erfüllung seiner Pflicht zudem nicht im eigenen Interesse, weswegen ihm auch nicht unterstellt werden könne, durch eine fehlerhafte oder unvollständige Beratung die Absicht zu verfolgen, auf den Vertragsentschluss des Beteiligten zum eigenen Vorteil einzuwirken. Anders auch als in den Fällen der Anlageberatung könne nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass gerade die zurückgehaltene Information geeignet gewesen wäre, den Beteiligten von dem Geschäft abzubringen (Rn. 24).


Praxistipp:

Aufgrund dieser, an die Argumentation des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs bei der anwaltlichen Beratung angelehnte Auffassung hat es der III. Zivilsenat vermieden, sich mit der Frage auseinander zu setzen, ob er im Hinblick auf die anders lautenden Entscheidungen des XI. und V. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs bereit ist, seine eigene Rechtsprechung im Rahmen der Prospekthaftung sowie der Beratungshaftung aufzugeben, wonach auch dort bisher daran festgehalten wurde, dass zugunsten des Anlegers für den Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und dem geltend gemachten Schaden lediglich eine durch Lebenserfahrung begründete tatsächliche Vermutung streiten kann mit der Konsequenz, dass diese Vermutung bei Vorliegen mehrerer naheliegender Handlungsmöglichkeiten ausscheidet. Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob der III. Zivilsenat im Falle einer Entscheidung über ein Kapitalanlageberatungsfall eines freien Anlageberaters an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält und in Abweichung und Abgrenzung zur Rechtsprechung des V. und XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshof die Vermutung beratungsgemäßen Verhalten nur dann eingreifen lässt, wenn nur eine Entscheidungsmöglichkeit bestanden hätte und keine verschiedenen Handlungsweisen ernsthaft in Betracht gekommen wären; eine Rechtsauffassung, die der XI. Zivilsenat selbst früher vertreten (vgl. BGH Urt. v. 16.11.1993, XI ZR 214/92) und später wieder aufgegeben hat (vgl. BGH Urt. v. 08.05.2012, XI ZR 262/10).


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