Montag, 11. Juli 2022

Tatbestandsirrtum (§16 StGB) und Verbotsirrtum (§ 17 StGB)

Vorsatz und Fahrlässigkeit – die Schuld als subjektiver Tatbestand der Strafrechtsnormen am Beispiel der Untreue

Dr. Hans Richter, OStA a. D., ehem. Hauptabteilungsleiter der Schwerpunktabteilungen für Wirtschaftsstraftaten der Staatsanwaltschaft Stuttgart

In meinem Beitrag im BP 07-08/2022 habe ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, die Grundlagen der Schuld, also des „subjektiven Tatbestandes“ der Strafrechtsnormen und deren Feststellung in der Strafrechtspraxis am Beispiel der Untreue nach § 266 StGB vorgestellt. Ich hoffe, Ihnen dabei deutlich gemacht zu haben, dass der zum Schuldnachweis ausreichende „bedingte Vorsatz“ nahe bei der Fahrlässigkeit angesiedelt ist und keinesfalls mit „Absicht“ – im Wirtschaftsstrafrecht regelmäßig nicht gefordert – verwechselt werden darf. „Ohne Schuld“ – und damit nicht vorwerfbar – handelt auch derjenige, der sich in einem (strafrechtlich relevanten) „Irrtum“ befindet. Auch insoweit finden sich bei Nicht-Juristen häufig Fehlvorstellungen und arbeiten gelegentlich die Strafverfolgungsbehörden nicht sorgfältig genug, weshalb auch dieses „Verteidigungsfeld“ mit Beispielen aus der Untreue-Strafbarkeit nach § 266 StGB näher beleuchtet werden soll.

Ein Mensch irrt, wenn er sich eine Fehlvorstellung von einem Sachverhalt macht. Diese Fehlvorstellung kann sich auf Tatsachen, also auf „Lebenssachverhalte“ beziehen, die der Gesetzgeber in der jeweiligen Strafnorm ausdrücklich als strafbarkeitsbegründend bestimmt hat. Das Strafrecht spricht dann von einem Tatbestandsirrtum, der in § 16 StGB geregelt ist. Unberührt davon bleibt die Strafbarkeit fahrlässigen Handelns. Unter § 16 StGB fällt auch ein Irrtum, der sich auf Fehlvorstellungen über Tatsachen bezieht, die – wenn sie vorlägen – einen Rechtfertigungsgrund bieten würden. Beim Vorwurf der Untreue könnten dies diese Tatsachen z. B. auf ein – in Wahrheit nicht vorliegendes – Einverständnis des Treugebers beziehen (Erlaubnistatbestandsirrtum). Dies führt zu einem weiteren möglichen Irrtum: Ein möglicher Täter nimmt unzutreffend an, es gebe für sein Handeln einen Rechtfertigungsgrund – in diesem Fall nimmt er irrig an, sein Handeln sei nicht verboten; ihm ist nicht bewusst, dass sein Tun/Unterlassen verboten ist. Diesen Fall regelt § 17 StGB als Verbotsirrtum. Die unterschiedlichen Folgen der beiden Irrtumsregelungen sind jedoch gravierend: Irrt der Handelnde über die relevanten Tatsachen (§ 16 StGB) kann hieran kein Schuldvorwurf geknüpft werden; nimmt er dagegen irrig an, sein Handeln sei nicht verboten, trifft ihn nur dann kein Schuldvorwurf, wenn sein Irrtum für ihn nach seinen persönlichen Möglichkeiten vermeidbar war.

Soviel zu den rechtlichen Grundlagen – und was bedeutet das nun in der Lebenswirklichkeit Verantwortlicher im Bereich der Banken und Kreditinstitute? Betrachten wir zum Einstieg mein Beispiel im BP 06/2022 (S. 196):

Dem Kreditsachbearbeiter B liegen Unterlagen des Kreditsuchenden vor, die dessen Kreditwürdigkeit (Bonität) in Höhe der Kreditsumme (nebst Zinsen und Gebühren) belegen. Die Informationen sind jedoch unrichtig, was auch bei (verlangter und angewandter) sorgfältiger Prüfung von B nicht erkannt wird. B irrt über relevante Tatsachen (Tatbestandsirrtum), womit seine Kreditentscheidung zwar objektiv falsch und auch für die Bank schadensverursachend ist – er handelt aber i. S. d. Untreue (§ 266 StGB) ohne Schuld und damit straflos. Ein Schadensersatzanspruch der Bank gegen B aus §§ 266 StGB, 823 Abs. 2 BGB ist nicht gegeben. 

Nimmt B irrig an, ihn treffe überhaupt keine Prüfpflicht, meint er also, eine sorglose und möglicherweise schadensverursachende Entscheidung über das Vermögen seiner Bank sei ihm erlaubt, handelt er zwar in einem Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB), da B auch Vorsatz hinsichtlich der Pflichtwidrigkeit nachgewiesen werden muss. Allerdings reicht – auch hier – wie in meinem Beitrag in BP 07-08/2022 näher erläutert – der „bedingte Vorsatz“ aus, der regelmäßig zu bejahen sein wird, wenn ein Pflichtiger sich über das Vorliegen (oder die Grenzen) seiner Treuepflichten keine Gedanken macht. Ohne Vorsatz, also im Tatbestandsirrtum, handelt indes derjenige, der aufgrund der Auskunft eines vollständig (!) informierten verlässlichen Sachkundigen (etwa auch der Rechtsabteilung, auszuscheiden sind allerdings „Gefälligkeitsgutachten mit Feigenblattfunktion“) den Umfang seiner Pflichten verkennt.

B erkennt im vorgestellten Fall aufgrund seines privaten Sonderwissens die Unrichtigkeit der Angaben des Kreditsuchenden, meint jedoch (irrig) dieses Sonderwissen nicht in seine Kreditentscheidung einbringen zu müssen. Hier könnte man zunächst annehmen, B irre über das – in Wahrheit nicht vorliegende – Einverständnis seiner Bank zur eingeschränkten Prüfpflicht. Er befindet sich mithin im Erlaubnistatbestandsirrtum. Sein Irrtum bezieht sich jedoch in diesem Fall nicht auf Tatsachen, sondern auf den Umfang des von ihm geforderten Handelns, mithin ein (Erlaubnis-)Gebotsirrtum, dessen Vermeidbarkeit aufgrund seiner beruflichen Vorgaben, insbesondere im KWG und in den Informationsunterlagen der BaFin leicht erkennbar ist. 

Leser meiner Kolumne wissen, dass ich in ihr grundsätzlich nicht Rechtsprechung zitiere, sondern deren Anwendung in der Praxis von Polizei und Staatsanwaltschaft schildere. Heute möchte ich eine Ausnahme machen, weil ich denke, die Entscheidung des BGH (BGH U. v. 18.11.2020 – 2 StR 246/20, Rn. 11 ff.) gibt verständliche und deutliche Hinweise darauf, wie schwierig es für den Entscheidungsträger einer Bank ist, dass sein Irrtum vermeidbar ist: Nach § 17 S. 1 StGB genügt es für die Annahme eines Verbotsirrtums, wenn der Täter wusste oder hätte erkennen können, Unrecht zu tun. Unvermeidbar ist der Irrtum, wenn der Täter trotz der ihm nach den Umständen des Falles, seiner Persönlichkeit sowie seines Lebens- und Berufskreises zuzumutenden Anspannung des Gewissens und unter Einsatz aller seiner Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen die Einsicht in das Unrechtmäßige nicht zu gewinnen vermochte. Verbleiben Zweifel, ob das Verhalten verboten ist, besteht eine Erkundigungspflicht. Ist der Täter geschäftlich tätig, gelten für ihn besondere Erkundigungspflichten (jeweils str. Rechtspr. u. hM). Der geschäftlich Tätige hat sich vor Aufnahme der Tätigkeit über die in ihrem spezifischen Geschäftsfeld geltenden einschlägigen Rechtsvorschriften zu informieren („Erkundungspflicht“) und auch wegen zwischenzeitlicher Änderungen der Rechtslage stets auf dem Laufenden zu halten („Aktualisierungspflicht“). Erforderlich ist darüber hinaus, dass die Erkundigung zur Behebung des Irrtums geführt hätte.

Auf dieser Grundlage und unter Anwendung der bereits in den früheren Folgen meiner Kolumne dargestellten Grundsätzen können Sie die Argumentation der Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage im folgenden Fall nachvollziehen:

G ist Geschäftsleiter der S-Sparkasse, deren Mitarbeiter nach an dem öffentlichen Dienst angeglichene Entgeltgruppen (EG) entlohnt werden. Der Kreditsachbearbeiter K ist entsprechend seiner Tätigkeit in die EG B eingestuft. Nachdem K zum Betriebsratsmitglied gewählt wurde, nahm G an, K werde vom Betriebsrat wohl alsbald als Mitglied in den Sparkassenrat entsandt werden. G sprach nun P (den für Personalfragen zuständigen Sachbearbeiter) darauf an, dass es gut wäre, wenn „ein bisschen mehr Gehalt“ bekommen würde. Beide prüften dann gemeinsam, wie man die Hochstufung des K auf die nächsthöhere Gehaltsstufe begründen könne. gefiel ein Vorschlag des und er wies diesen an, die Höhergruppierung des K „umzusetzen“. war der Auffassung, er müsse der Weisung seines „Chefs“ Folge leisten und fertigte den inhaltlich abgesprochenen Vermerk, den abzeichnete und veranlasste dessen Umsetzung. K, der vom Vermerk keine Kenntnis hatte, wunderte sich zwar, war aber mit seinem nun um monatlich 400 € höherem Gehalt zufrieden.

Angesichts meiner vorangegangenen Kolumnen reicht hier der kurze Hinweis darauf, dass sowohl G als auch P und K dem Vermögen der S treuepflichtig sind. Danach waren sowohl G als auch P zu sorgfältigem, kaufmännisch ordnungsgemäßen Handeln als Geschäftsführer bzw. als Personalsachbearbeiter verpflichtet; beide haben ihre Pflicht (gemeinschaftlich handelnd) verletzt. Die Treuepflicht des bezüglich des Vermögens der betrifft diesen Bereich nicht – er ist somit schon kein tauglicher Täter. Im Umfang der Höhergruppierung des K ist das Vermögen der S selbst dann geschädigt, wenn die Arbeitsleistung des K die höhere Bezahlung rechtfertigen würde, weil K zur Leistung in der alten Vergütung bereit war. 

Der (direkte) Vorsatz des G bezieht sich auf die Vermögensbetreuungspflicht, deren Verletzung und auf die Schädigung des Vermögens der S. Letzteres auch dann, wenn er (unwiderlegt) angenommen hat, die Leistung des sei „diesen Preis wert“, weil es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Arbeitskraft des K für die notwendig und nur so erhalten werden könnte. Zudem ist „Klimapflege“ (zum Betriebs- und oder Aufsichtsrat, zum Landrat oder der Stadtverwaltung) kein wirtschaftlicher Gegenwert.

Dies gilt auch für P. Dessen Annahme, er sei an die Weisung des gebunden, bezieht sich nicht auf die Verkennung von Tatsachen, sondern begründet – kann die Annahme nicht widerlegt werden – eine fehlerhafte rechtliche Bewertung, also einen Verbotsirrtum, der freilich – jedenfalls ohne Einholung verlässlicher Information – vermeidbar war.

Im Beitrag des nächsten BankenPraktiker will ich Sie mit den Möglichkeiten des Einsatzes der Strafverfolgungsbehörden zur Beweiserhebung und -sicherung bei Straftaten zum Nachteil Ihrer Bank vertraut machen.


Beitragsnummer: 21750

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