Montag, 14. März 2022

Russland-Ukraine-Krieg – mehr als eine Zäsur

Kurz- und mittelfristige Implikationen für die Real- und Finanzwirtschaft

Thomas Kohlhase, Senior Credit Analyst, Fixed Income, Ampega Asset Management GmbH

 

Der Angriff Russlands auf die Ukraine am 24.02.2022 dürfte in den Geschichtsbüchern eines Tages als historisches Ereignis im Sinne einer Zäsur Eingang finden. Überraschend kam dieser Angriff nicht, da westliche Geheimdienste und Militärexperten bereits seit Monaten vor einem solchen Ereignis gewarnt haben. Dennoch hat dieser Angriff neben dem vielen menschlichen Leid zu schockartigen Reaktionen sowohl in Politik, Gesellschaft als auch Wirtschaft geführt, wo man gleichermaßen völlig unvorbereitet mit diesem traurigen Ereignis konfrontiert wurde.

Dominierte Anfang des Jahres noch eine optimistische Stimmung anlässlich eines nahenden Übergangs von einer Pandemie zu einer Endemie und einer stabilen Weltwirtschaft, trotz Lieferkettenproblemen und bereits anziehender Inflation, hat der Überfall Russlands auf die Ukraine diese Stimmungslage angesichts der Drohungen aus Moskau bis hin zum Einsatz nuklearer Waffen mehr als nur eingetrübt. Auch wenn geopolitische Krisen historisch gesehen an den Kapitalmärkten meist tiefe, aber auch nur kurze Einschnitte hinterlassen haben, lässt sich dies gegenwärtig noch nicht ausmachen. Daher ist Vorsicht geboten. Zudem ist das Gespenst der Stagflation wie nach dem Ölpreisschock 1973 zurückgekehrt, wo es neben Preisauftrieb zu wirtschaftlicher Stagnation kam. Ein solches makroökonomisches Umfeld wäre Gift für die Kapital- und Kreditmärkte.

Die westlichen Reaktionen mit ihren umfassenden Sanktionen haben bereits spürbare wirtschaftliche Implikationen für die Weltwirtschaft mit sich gebracht. Insbesondere das energiehungrige und auf russische Importe angewiesene Europa spürt dies bereits. Die Märkte reagierten sofort mit Risikoaversion: einerseits kam es seitdem zu einer Flucht in „sichere Häfen“, wo deutsche Staatsanleihen Anfang 2022 nach Jahren erstmals seit langem wieder über Null rentierten und sofort wieder ins Negativterrain fielen. Andererseits schießen insbesondere Rohstoffe, allen voran Öl, Gas, Gold aber auch zahlreiche Metalle sowie Agrarrohstoffe in die Höhe. Hinzu kommt eine Verschärfung der bereits bestehenden Lieferkettenprobleme und ein beschleunigter Preisauftrieb, der die Zentralbanken einem Dilemma aussetzt.


Kurz- und mittelfristige Implikationen für die Real- und Finanzwirtschaft

Kurzfristig haben viele Marktteilnehmer mit dem Preisauftrieb bei gleichzeitigen Lieferschwierigkeiten zu kämpfen. Russland steht zwar „nur“ auf Rang 12 der wichtigsten Herkunftsländer für deutsche Einfuhren (= 2,8 %), aber insbesondere die rohstoffhungrige deutsche Wirtschaft spürt bereits die negativen Einflüsse. 

Deutschland bezieht nahezu 55 % des Erdgases, 50 % der Kohle und rund ein Drittel des Rohöls aus Russland. In vielen osteuropäischen Ländern ist diese Abhängigkeit zu Russland noch weit größer. Hinzu kommt eine hohe Abhängigkeit beim Bezug von Nickel, Aluminium und anderen Industriemetallen. Die Auswirkungen auf viele Branchen sind damit erheblich. Hinzu kommen Lieferverflechtungen mit Zulieferern aus der Ukraine und Russland, die bereits in der Automobilindustrie zu spüren sind und auch in weiteren Sektoren bald sichtbar werden dürften. Die exportabhängige deutsche Wirtschaft ist ebenso betroffen, auch wenn nur 1,9 % der Exporte 2021 nach Russland gingen. 

Überproportional stark sind vor allem Exporteure von pharmazeutischen Erzeugnissen sowie aus dem Maschinenbau und dem Automobilsektor betroffen. Für Banken und Kreditgeber bedeutet dies im Hinblick auf die Bewertung ihrer Kreditportfolien sich ein entsprechendes Bild zu machen. Neben den ersten schon sichtbaren Erstrundeneffekten dürfte es perspektivisch auch zu Zweitrundeneffekten kommen. Für deutsche Unternehmen und Banken haben nämlich die westlichen Sanktionen erheblichen Einfluss: Der Ausschluss des Großteils der russischen Banken vom SWIFT-System (was u. a. zu einer Erschwerung der Bezahlung russischer Energieimporte nach Europa führt), die Aussetzung von Exportbürgschaften (z. B. Euler Hermes) sowie die Sperrung des Luftraumes und der Anlaufstopp russischer Schiffe in europäischen Häfen, ganz zu schweigen von Sanktionen gegen die russische Zentralbank und dem Einfrieren nahezu der Hälfte der russischen Devisenreserven dürften ihre Wirkung erst noch entfalten. Zudem droht Russland und zahlreichen russischen Unternehmen der Zahlungsausfall an den internationalen Finanz- und Kreditmärkten. 

Des Weiteren müssen deutsche und europäische Unternehmen zur Abwehr weiterer Finanz- und Reputationsrisiken die Know-Your-Customer-Regeln strikt anwenden, da vor allem die weitergehenden US-Sanktionen exterritorial gelten und Nicht-US-Akteure massiv beeinträchtigen können. Transparenz ist daher einmal mehr ein Gebot der Stunde.


Langfristige Implikationen für die globale Ordnung

Der aktuell noch heiße Krieg dürfte nach hoffentlich baldigem Friedenschluss längerfristig das geopolitische Gefüge weiter in Bewegung setzen. Russland dürfte dabei wirtschaftlich als relativer Verlierer hervorgehen, da der Vertrauensbruch als stabiler und verlässlicher Lieferant derart groß ist, dass das Thema Autonomie in Europa, insbesondere im Hinblick auf die Energieimporte, zu einer Beschleunigung der Energiewende führen dürfte. Profitieren dürften davon sämtliche Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette von Erneuerbaren Energien. Unternehmen der europäischen Rüstungsindustrie und deren oft mittelständische Zulieferer dürften von der massiven Aufstockung der nationalen Verteidigungshaushalte ebenso profitieren, ja vielleicht sogar von einem Einschluss in die aktuell diskutierte EU-Sozialtaxonomie, womit Rüstungsverbände in Brüssel werben. Übergangsweise dürften die USA zudem ein wichtiger Energielieferant für Europa werden (LNG).

Der Einfluss des westlichen Finanzsystems mit Swift und der „Hegemonie“ des US-Dollars auf die globale Finanzarchitektur könnte jedoch leiden. Es wird bereits sichtbar, dass das chinesische Cross-Border Interbank Payment System an Bedeutung gewinnt. China könnte hier sowie bei der Etablierung digitaler Zentralbankwährungen, wo China bereits heute führend ist, seine Führung ausbauen vice versa der Westen einbüßen. Des Weiteren ist zu erwarten, dass China seine Handelsbeziehungen zu Russland stärker ausbaut und sich diese Großmächte weiter miteinander verflechten werden: China dürfte zunehmend billige Energie importieren, insbesondere dürften Gasimporte aus Russland zunehmen, da China noch einen Großteil seiner Energie aus der noch klimaschädlicheren Kohle bezieht, während Russland einen weiteren Absatzmarkt für chinesische Fertigprodukte darstellt, die zunehmend westliche Güter verdrängen dürften.

Die Auswirkungen auf Schwellenländer sind nicht zu unterschätzen. Viele Länder Afrikas und Asiens sind abhängig von Energie- und Agrarlieferungen aus Russland und der Ukraine. Das Thema Inflation löst bei vielen Menschen in diesen Ländern Existenzsorgen aus, wo der Preisanstieg für Brot und andere Grundnahrungsmittel sehr viel stärker wirkt als in den entwickelten Volkswirtschaften. Da aktuell mit massiven Ernteausfällen in der Ukraine gerechnet werden muss und die Ukraine für mehr als ein Dutzend Schwellenländer ein wichtiger Getreidelieferant ist, könnte es dort zu Hungerkrisen und weiteren politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen kommen. Finanzwirtschaftlich dürfte dies die Risiken im Hinblick auf die Bedienung ihrer Auslandsverschuldung der Schwellenländer massiv erhöhen. Über Wechselkurseffekte könnten zudem Unternehmen aus Schwellenländern, die in Fremdwährung (primär US-Dollar) verschuldet sind, in einen solchen Abwärtssog geraten.

Der weitere Verlauf des Russland-Ukraine-Krieges mit noch ungewissem Eskalationspotential dürfte somit die weitere Lage an den Kapital- und Kreditmärkten bestimmen. Unsicherheiten und erhöhte Volatilitäten werden daher das Makrobild in nächster Zeit kennzeichnen.


PRAXISTIPPS

  • Portfolien robust aufstellen: Kreditnehmer auf Russland/Ukraine Exposure sowie Abhängigkeiten (z. B. Rohstoffe) identifizieren.
  • Transparenz herstellen, Reputations- und Finanzrisiken vermeiden: Gibt es Kreditnehmer/Gesellschaften mit undurchsichtigen Eigentumsverflechtungen, wo US-Sanktionen wirken könnten?
  • Chancen nutzen, aber auch nicht alle „Eier" in einen Korb legen: Da wo es Verlierer gibt, wird es auch Gewinner geben. Einige Branchen dürften im kommenden Jahrzehnt von den aktuellen Verwerfungen profitieren, v. a. im Bereich Erneuerbare Energien (Vorsicht vor Blasenbildung).

Beitragsnummer: 20619

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