Dienstag, 15. Februar 2022

Anscheinsbeweis trotz § 675w S. 3 u. 4 BGB

Prof. Dr. Hervé Edelmann, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart

 

Bereits vor der Einführung der Regelung des § 675w S. 3 BGB im Zuge der Umsetzung der ersten Zahlungsdienste-Richtlinie mit Wirkung zum 01.11.2009, wonach u. a. die Verwendung der Bankkarte und die Authentifizierung in Folge der Eingabe der Pin allein nicht notwendigerweise ausreicht, um nachzuweisen, dass der Zahler vorsätzlich oder grob fahrlässig gegen die Bedingungen für die Nutzung der Karte verstoßen hat, galt in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Grundsatz, dass dann, wenn bei Abhebungen mit einer Zahlkarte an einem Automaten die Originalkarte und die PIN verwendet werden, ein Anscheinsbeweis dahingehend gilt, dass die Zahlung entweder vom berechtigten Karteninhaber selbst vorgenommen wurde oder dass der Karteninhaber, wenn die Karte von einem Dritten unberechtigt genutzt wurde, diesem pflichtwidrig eine Kenntniserlangung von der PIN ermöglicht hat, dies insbesondere durch eine grob fahrlässig erfolgende gemeinsame Aufbewahrung der Karte mit einer Notiz der PIN. Grundlage dieses Anscheinsbeweises war schon damals der anerkannte technische Befund, dass es Unbefugten praktisch nicht möglich ist, die Sicherheitsvorkehrungen im Bereich der Kartenzahlungsvorgänge mit PIN unter Einsatz der Originalkarte zu überwinden. 

In seinem Urteil vom 26.01.2016, Az. XI ZR 91/14, (BGHZ 208, 331, m. Anm. Schultheiß, WuB 2016, 453) entschied der Bundesgerichtshof, dass die neue Regelung des § 675w S. 3 BGB an der Anwendung dieses Anscheinsbeweis-Grundsatzes nichts zu verändern vermag. Vielmehr würde den zusätzlichen Nachweisanforderungen gem. § 675w Abs. 3 BGB bereits durch die Konstruktion des Anscheinsbeweises Genüge getan, wonach der Zahlungsdienstleister, damit die Grundsätze des Anscheinsbeweises überhaupt Geltung entfalten, nicht nur die Verwendung der Originalkarte nebst PIN nachweisen müsse, sondern auch die allgemein praktische Sicherheit sowie die Einhaltung der Sicherheitsverfahren im konkreten Fall.

Nunmehr hat das Oberlandesgericht Bremen, soweit ersichtlich als erstes Oberlandesgericht, in seinem Beschluss vom 19.05.2021, Az. 1 W 4/21 (WM 2021, 1792), entschieden, dass auch die im Zuge der Umsetzung der zweiten Zahlungsdienste-Richtlinie mit Wirkung zum 13.01.2018 erfolgte Ergänzung der Norm des § 675 w BGB durch einen weiteren S. 4 der Heranziehung der Grundsätze über den Anscheinsbeweis nicht entgegenstehe. Vielmehr könnten, so das OLG Bremen, die von Satz 4 verlangten unterstützenden Beweismittel auch im Nachweis der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises bestehen, d. h. in der Darlegung der praktischen Unüberwindbarkeit der Sicherungsmerkmale von Zahlungskarten (so jetzt auch OLG Frankfurt, Urteil vom 30.09.2021, Az. 6 U 68/20, ZIP 2022, 73).

Für den Fall wiederum, dass die Geldabhebung im Präsensgeschäft unter Einsatz der Original-Kreditkarte ohne Verwendung der PIN allein gegen Unterschrift erfolgt, hält das OLG Bremen fest, dass die Grundsätze über den Anscheinsbeweis mangels Verwendung personalisierter Sicherheitsmerkmale nicht zur Anwendung gelangen, weswegen bei einer solchen Verwendung der Karte weder auf eine autorisierte Nutzung der Karte noch auf eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Zahlungsdienstnutzers geschlossen werden könne und es demgemäß bei dem Anspruch des Zahlungsdienstnutzers nach § 675u BGB verbleibe. In diesem Zusammenhang verweist das OLG Bremen noch darauf, dass die Haftung des Kreditinstituts nach § 675u BGB kein Verschulden des Kreditinstituts i. S. d. Erkennbarkeit der Fälschung der Unterschrift voraussetzt und ein Haftungsausschluss nach § 676c Nr. 1 BGB bei einer nicht erkennbaren Unterschriftenfälschung auch nicht in Betracht kommt, weil es sich hierbei nicht um ein unvorhersehbares Ereignis im Sinne dieser Norm handelt.

Dann erklärt das OLG Bremen im Zusammenhang mit der Prüfung des Bestehens etwaiger Schadensersatzansprüchen nach § 675v Abs. 3 BGB eine vertragliche Regelung für mit dem gesetzlichen Leitbild von § 675 l Abs. 1 Satz 2 BGB unvereinbar, weil der Karteninhaber nach dieser Regelung zur Abgabe einer Sperranzeige bereits bei Vorliegen eines bloßen Verdachts, dass eine nicht autorisierte Nutzung der Karte oder PIN vorliegt, verpflichtet wird, während der Zahlungsdienstnutzer nach der gesetzten Regelung des § 675 l Abs. 1 Satz 2 BGB seine Sperranzeige nur dann abgeben muss, wenn er ausdrücklich Kenntnis von der unautorisierten oder missbräuchlichen Verwendung hat (vgl. hierzu kritisch Omlor, WuB 2021, 521, 524, welcher im Wege der teleologischen Auslegung eine Anzeigepflicht bereits dann bejahen will, wenn dem Zahlungsdienstnutzer konkrete Anhaltspunkte bekannt sind, die auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Verlustes, eines Diebstahles, einer missbräuchlichen Verwendung oder einer sonstigen nicht autorisierten Nutzung hindeuten; befürwortend hingegen Bartlitz, EWiR 24/2021, 739, 740).

Schließlich führt das OLG Bremen aus, dass eine einen Schadensersatzanspruch begründende Pflichtverletzung in Form der mangelnden Information des Zahlungsdienstnutzers über den Nichterhalt von Rechnungsabschlüssen aufgrund einfacher Fahrlässigkeit nicht in Betracht kommt, weil dies der Haftungsbeschränkung des Kunden nach § 675v Abs. 3 BGB widersprechen würde.

 

PRAXISTIPP

Für die Praxis relevant ist, dass nunmehr gleich zwei Oberlandesgerichte die Grundsätze über den Anscheinsbeweis trotz der neuen Regelung des § 675w S. 4 BGB nach wie vor für anwendbar ansehen. Allerdings bleibt der Zahlungsdienstleister trotz Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises grundsätzlich verpflichtet, nicht nur die Verwendung der Originalkarte nebst PIN nachzuweisen, sondern auch die praktische Unüberwindbarkeit der Sicherheitsmerkmale von Zahlungskarten.

Ob der Bundesgerichtshof wiederum dem überzeugenden Vorschlag von Omlor folgen und eine teleologische Erweiterung der Norm des § 675 l Abs. 1 Satz 2 BGB dahingehend vornehmen wird, dass eine Anzeigepflicht des Zahlungsdienstnutzers bereits bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für eine missbräuchliche oder unautorisierte Verwendung und Nutzung anzunehmend ist, ist zweifelhaft, wäre jedoch vor dem Hintergrund wünschenswert, als dem Zahlungsdienstnutzer selten eine ausdrückliche Kenntnis von einem unautorisierten Vorgang nachweisbar sein dürfte.


Beitragsnummer: 20584

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